Es war kurz vorm Ziel. Ein Fehltritt. Dann ging alles sehr schnell. Ich hörte ein Sausen, direkt neben meinem Ohr. Plötzlich gab es einen Ruck. Dann hing ich im Seil. Neben mir Peter, mein Kamerad. Ich gab ihm Zeichen.

Ich blickte nach oben, konnte die anderen nicht sehen. Klar, sie würden uns zurückholen. Wir hingen lediglich an einer Leine, vollkommen frei in der Luft. Am seidenen Faden, wie man so schön sagt.

Natürlich waren wir als Kletterer schwindelfrei und hatten selbstverständlich das Fallen trainiert, aber jetzt so über dem Abgrund zu schweben …

Peter, ich konnte ihm direkt in die Augen sehen.

Ich sah Unbehagen darin. Zumindest Beklommenheit. Vielleicht sogar Angst. Meine Güte, wie oft hatten wir diesen Extremfall geübt. Doch wenn es passierte, das war schon etwas anderes.

Ein Windstoß sauste zwischen uns, wir pendelten vor und zurück. Es bestand das Risiko, an die seitliche Felsformation geschleudert zu werden. Das wäre unser sofortiges Aus gewesen.

Doch nichts tat sich von oben, um uns zu retten. Was machten die nur dort? Wann holten sie uns endlich zurück? Sie konnten uns doch nicht so da herumbaumeln lassen, wie Christbaumkugeln im Wind.

Plötzlich spürte ich Peters Hand neben mir. Er suchte die meine.

Ich merkte, wie feucht seine Finger waren. Aber sein Händedruck tat gut. In so einer Situation, den Tod direkt vor Augen, brauchte man nichts mehr zu verbergen. Der Schock, die Angst, die Panik. Es war nicht mehr wichtig, die Fassung zu bewahren, man konnte sie abwerfen wie ein altes Kleid.

Wir ruderten näher zueinander. Schulter an Schulter. Ich konnte seine Aura spüren. Konnte spüren, wie er schwitzte, obwohl es kalt war. Seine Körperreaktion sorgte für eine innere Verbundenheit. Es schweißte zusammen, denn ich schwitzte genauso. Ich schaute in den Abgrund hinunter.

»Tu das nicht«, hauchte er, »sieh nicht hinab, hab Vertrauen.«

Ich nickte. Wenn man mit einer Seilschaft unterwegs war, musste sich der eine auf den anderen verlassen. Ich wusste intuitiv, genau das musste ich auch tun, mich auf die anderen verlassen. Ich durfte jetzt einfach die Hoffnung nicht aufgeben. Die anderen waren da oben, und sie kämpften bestimmt um unser verdammtes Leben. Und Peter war da.

So schlimm der Gedanke auch war, hier an einem dünnen Seil über dem tödlichen Abgrund zu hängen, ich war froh, dass ich nicht allein war. Ich kannte Peter und schätzte seine Professionalität im Berg.

Langsam wurde es noch kälter. Ich fröstelte trotz der dicken Daunenjacke.

»Komm«, sagte er. Er hatte bestimmt gesehen, wie ich begonnen hatte, zu zittern. Nicht nur wegen der Kälte.

Er ließ meine Hand los und umklammerte mich stattdessen, soweit das mit unseren dicken Jacken und den Seilen möglich war. Ich spürte seinen Körper, sein Herzklopfen. Was, wenn wir hinunterfallen würden? Weiterhin geschah nichts von oben.

Es schien in den Bergen nur Peter und mich zu geben. Aneinandergekrallt wie zwei Ertrinkende. Ich merkte, wie sein Blut in den Adern rauschte. Oder bildete ich es mir nur ein? Immerhin lagen mehrere Lagen Stoff zwischen uns. Ich hörte, wie sein Puls pochte. Spürte seinen aufgeregten Atem.

Spürte jede Faser seines Körpers. Fühlte, was er dachte, was ihn umtrieb. Wenn man so aneinandergefügt war, in einem solchen Ausnahmezustand, dann entwickelte man Antennen für den anderen, bekam alles mit. Intuitiv. Es waren zufälligerweise dieselben Gedanken wie die meinen.

Plötzlich strich er mit der Hand an seinem Körper hinab. Nur die Andeutung seiner Bewegung. Ich kannte sie. Er hatte sie oft eingesetzt. Früher, wenn wir bei einer Tour in eine Notlage gekommen waren. Die Bewegung sollte bedeuten, herunterzukommen, die Situation zu deeskalieren, sich zu entkrampfen.

Sein Atem wurde merklich ruhiger. Und wie durch ein Wunder beruhigte sich auch der meine. Er glich sich seinem Atem an. Ich hatte einmal gelesen, dass sich der Atem eines anderen Menschen in Extremsituationen angleichen konnte. Irgendwie verschmolz ich mit Peter.

Im gleichen Augenblick hörte ich Stimmen von oben. Wortfetzen.

Zum Glück. Wir blickten himmelwärts, mir fehlte die Kraft, um etwas zu rufen. Ihm auch.

Für einen kurzen Moment sah ich einen Schopf. Endlich, endlich, die Zeit schien still zu stehen.

Aber die Wortfetzen verhallten im Wind. Und schon war wieder nur Stille.

Eine gefühlte halbe Ewigkeit, in der wir nur dahinpendelten, miteinander eins geworden.

Ich spürte seine Wangen. Sie waren kalt vom schneidenden Wind. Trotzdem, der Hautkontakt beruhigte mich. Peter drehte sich in Richtung meines Ohres. Und begann zu flüstern.

»Nicht aufgeben.«

»Ja, nicht aufgeben«, hauchte ich zurück.

Er lächelte, flüsterte weiter, sang.

Wie konnte er singen? Das alte Bergsteigerlied.

Nur langsam, unmelodisch. Egal. Ich sang mit, so wie ich vorher mitgeatmet hatte. Bei jedem seiner Atemzüge. Und holte genauso tief Luft. Eins mit einem Menschen, der das Gleiche fühlte.

»Wir kommen wieder, denn wir sind Brüder, Brüder auf Leben und Tod.«

Ich öffnete den Mund, sein Atem vermischte sich mit meinem. Jede Berührung ging mir plötzlich durch Mark und Bein. Ich spürte es ganz intensiv. Es hatte etwas zutiefst Inniges.

Plötzlich hörte ich wieder Stimmen über mir.

»So, wir holen euch. Keine Angst.«

Die hatten gut reden.

Ein Ruck. Dann spürte ich, wie wir nach oben gezogen wurden. Das löste ein ganz besonderes Gefühl aus. Wir klammerten uns noch fester aneinander. Versuchten, nur nach oben zu sehen.

Das Hochholen war nicht ungefährlich. Vergleichsweise wie beim Flugzeug die Landung. Beim Hochholen konnte das Seil durchscheuern. Ich wagte nicht, dran zu denken.

Ja, im Moment waren wir Brüder auf Leben und Tod. Wir sagten uns das immer noch, während wir über den Rand gezogen wurden.

Dann standen wir oben mit sicherem Boden unter den Füßen. Ich atmete erst einmal durch.

»Alles in Ordnung?«, fragte er.

Ich nickte.

Noch lange standen wir einfach so da. Immer noch spürte ich seinen Atem, sein Herzklopfen. Doch langsam fand jeder von uns seinen eigenen Rhythmus wieder. Zurück blieb ein seltsames Gefühl.

Vielleicht so, wie gerade jemanden zutiefst kennengelernt zu haben.

Ingrid Reidel
© Fotostudio Fischer

Ingrid Reidel

Die Weinheimer Autorin wurde mehrmals ausgezeichnet. Sie stand auf der Shortlist der Wiener Kriminacht, war im Finale der Art Experience in Baden bei Wien und gewann den Deutschen Kurzkrimi-Preis Tatort Eifel. Ingrid Reidel ist Mitglied bei den Mörderischen Schwestern und den Bloody Maries. Sie lebt mit ihrem Mann in einem alten Anwesen in Weinheim bei Heidelberg.