„Es wird ein Drachenflieger sein“, sagte Bart und blinzelte wieder in die Sonne. „Es ist zu schlank für einen Drachenflieger, ich sehe keine Schwingen“, konterte Herr Wagner. „Dann ist es eben einer dieser Gleitschirme“, versuchte Bart versöhnlich zu klingen, obwohl er die steigende Hysterie in Wagners Gemüt als unerträglich empfand. Frau Glucks gellende Stimme fuhr Bart ganz plötzlich an. Gleichzeitig schnellte Herr Wagner neben ihm geräuschvoll vom Stuhl auf. Das Mädchen blieb wie angewurzelt stehen und begann zu weinen. Herr Gluck trat auf die Terrasse und blickte mit ernstem Gesichtsausdruck nach oben. Hinter ihm erschien Frau Wagner im schwingenden Pelzmantel, gleich dahinter Frau Giardinone. Die Damen hatten sich vor einer Stunde an die Bar zurückgezogen. Die Giardinone war, wie Bart fand, eine rassige Frau, nur leider waren ihre Kurven etwas aus dem Ruder gelaufen. Die beiden haben mit Sicherheit bei einem einzigen Kaffee wieder ein Vermögen ausgegeben, dachte er und verstieg sich gerade in die Schätzung ihrer im Gespräch vorweggenommenen Einkäufe, als ringsum alles aufschrie.
Bart sah, wie die Anwesenden ihre Arme in die Luft warfen und mit weit nach hinten gedehntem Nacken zum Himmel hinaufstarrten. Er folgte den Augen der anderen, er sah, er erschrak, er spürte, wie ihm das Blut aus den Wangen wich, er spürte, wie eine jähe Hitze ihm in die Brust fuhr. Sein Herz jagte, für einige Augenblicke war rundherum alles still geworden und er ganz bei sich. Dann hörte er wieder das Durcheinanderrufen der anderen Gäste. Gottlob saß er noch auf seinem Stuhl, stehend wäre er wohl Gefahr gelaufen, das Gleichgewicht zu verlieren.
Es war nicht zu fassen, da näherte sich doch tatsächlich ein Mensch durch die Luft! Einfach so! Ohne jegliche Flughilfe! Er war jetzt ganz nahe. Er schwebte direkt über ihnen. Kreiste über ihren Köpfen hin und her, nur ein paar Meter entfernt. Man konnte den Mann lächeln sehen. Ja, dieser Mensch, der kein Mensch sein konnte, stand in der Luft, lächelte und ließ seine Tasche baumeln. Dann sank er schwungvoll herab, landete auf beiden Beinen mitten in der Runde, zupfte seine Jacke zurecht und fuhr sich durchs zerzauste Haar. „Ich bring die Post“, sagte er im alleralltäglichsten Tonfall, den man sich denken konnte. Er stellte die Tasche auf den Stuhl, auf dem soeben noch Herr Wagner gesessen hatte. Er kramte darin, zog Umschläge heraus, las und steckte sie wieder zurück.
Endlich hatte er, seinem Nicken nach zu schließen, den richtigen Brief in der Hand. Er schloss die Tasche wieder, schaute die Anwesenden freundlich, fast feierlich an. Erst jetzt fiel Bart auf, dass von dem Moment an, als der Postbote bei ihnen stand, alle verstummt waren. Die Hysterie, die Angst und sogar das Staunen hatten sich rasch verzogen, an ihre Stelle war eine Selbstverständlichkeit getreten, die allenfalls von einer leisen Neugier begleitet war. Denn bald würde sich zeigen, wer der Empfänger des Briefes sein würde, bald würde man erfahren, weswegen der Postbote diesmal auf den Zauberberg geflogen war. Die Erinnerung war zurückgekehrt.
„Willi Bart?“, fragte der Postbote, ein Raunen ging durch die kleine Gruppe und alle starrten auf ihn, Bart. Der Bote händigte den Brief aus. Bart öffnete umgehend den Umschlag und faltete das Blatt auseinander. Alle konnten sehen, dass es tatsächlich beschrieben war. Die Spannung stieg, das kleine Mädchen begann wieder auf und ab zu hüpfen. Es kicherte.
„Von wem?“, fragte Frau Wagner ungeduldig. „Datiert wann?“, wollte die Giardinone wissen. „Sagen Sie schon!“, rief Frau Gluck, ihr düsterer Gesichtsausdruck war verschwunden. Mit einem Hauch von Glückserwartung in der Stimme fügte sie hinzu: „Es gibt sie also noch?“
Bart räusperte sich. Er spürte eine sonderbare Rührung in seiner Brust. „Ja“, sagte er, „es gibt sie noch. Sie schreiben mir.“ Er hüstelte sich die Rührung aus dem Hals. „Sie stellen mir Fragen. Und sie lassen herzlich grüßen.“ Versonnen lächelte er in sich hinein und dachte, dass es wieder einmal sehr angenehm war, nicht zu wissen, wer von ihnen diesseits und wer jenseits des Zauberbergs lebte. Diese Grenze nicht zu kennen, tat merkwürdig gut.
„Die Fragen sind nicht persönlich, auch das andere sollten Sie ausplaudern“, sagte der Briefträger plötzlich. Er machte sich schon zum Abflug bereit, schulterte die Umhängetasche, zog die Jacke nach unten, stellte sich auf die Zehenspitzen, spannte seinen Körper und blickte konzentriert zum Himmel. Bart fühlte einen heftigen Druck im Magen.
Aber diese Fragen sind peinlich, sie sind dumm und dreist, ich mag sie nicht, dachte er mit einem Mal. Es war ihm, als müsse er so urteilen, als sei er sich das schuldig. Er faltete den Brief zusammen und überlegte. Ich behalte die Fragen besser für mich, kam er mit sich überein. Was würden die anderen von mir denken, wenn sie alles wüssten? Schließlich komme ich weiterhin gern hierher! Ich muss meinen Ruf schützen!
„Es geht ihnen gut, sie lassen auf das Herzlichste grüßen, weiter nichts“, beeilte er sich zu sagen, es klang kantig, falsch. Er wollte noch etwas hinzufügen, merkte aber, wie überflüssig es war. Plötzlich durchfuhr es ihn heiß. Er hatte wieder darauf vergessen! So sehr hatte er es sich vorgenommen, nachdem er das letzte Mal Empfänger gewesen war! Trotzdem war er wieder in die Falle gegangen. Bart schaute sich um, jetzt war es zu spät. Keiner achtete mehr auf ihn. Die anderen hatten sich längst abgewandt und waren nur noch mit dem fliegenden Drachen, für den der Bote gehalten worden war, beschäftigt. Sie schauten ihm nach, die einen mit einem Ausdruck der Angst im Gesicht, die anderen mit Erstaunen, die nächsten bleich, wie fassungslos. Das Kind klammerte sich an seine Mutter und wimmerte: „Ein Drache! Schau, Mama, ein Drache!“
Bart konnte gerade noch denken, dass das Gedächtnis ihm, ihnen allen, nichts als Fallen stellte. Dann hatte er auch das vergessen. Er schaute der Wagner und der Giardinone nach, wie sie wippend und wogend Richtung Cafeteria verschwanden, er beobachtete Frau
Gluck, wie sie dem Kind ein Stofftier in die Hand drückte, um es zu trösten. Er hatte Zahlen im Kopf, nichts als Zahlen. Sein Blick fiel auf Wagner, der auf seinem Stuhl saß und ihn erwartungsvoll anschaute, dabei nervös an dem weißen, geradezu affig wirkenden Cashmeretuch mit rosa Stickerei nestelte. Bart erriet, dass Herr Wagner endlich das Gespräch fortsetzen wollte.