Gib mir deine Hand

Gib mir deine Hand, sagte er und wunderte sich selbst über diesen Beinahe-Befehlston. Sie sah ihn auch verwundert, im ersten Moment fragend an, verstand ihn aber richtig und schob ihm ihre rechte Hand über die Holzbank zu. Und er nahm ihre Finger zwischen seine Finger, sagte nichts, sondern wandte den Blick wieder der herandrängenden Flussströmung zu. Sie ließ ihre Hand in seiner und er spürte ihr sanftes Drücken. Doch obwohl sie alleine waren und die hängenden Zweige einer Weide sie einigermaßen abschirmten, wagten sie nicht, sich unter diesem blauen, nackten Himmel aneinanderzuschmiegen.

Ihre Lippen waren prall, über ihre Nase und ihre Wangen liefen winzige Sommersprossen. Erst jetzt, einen Tag bevor sie wegfuhr, fiel ihm die Farbe ihrer Augen auf – ein olivegrünes Braun. Wieder in die Stille hinein sagte sie: Ich habe dich auch geliebt, aber auf meine Art, die du nicht verstehen willst. Sie sprach in der Vergangenheitsform. Und wollte doch in fünf Tagen zurückkommen. 

Ich verstehe dich, sagte er, du musst nichts erklären, ich verstehe dich. 

Bevor sie in den Bus stieg, hatte sie ihre Arme um seinen Nacken gelegt und ihn an sich gezogen. Er hatte dem wegrollenden Linienbus nicht nachgewinkt. Ohne sich noch einmal umzudrehen, war er weggegangen, in ganz andere Straßen, die nicht zu seinem Wohnblock führten, irgendwann hatte er das Donnergrollen gehört und den einsetzenden Regen auf seinen Haaren gespürt. Er dachte nichts zu Ende. Gut so, murmelte er in sich hinein, ich will nichts zu Ende denken.

 

2/2

 

In den Kleidern hatte er sich auf sein Bett gelegt, hatte die Vorhänge nicht zugezogen, obwohl es trotz des Regens noch lange hell blieb, aber es genügte die Augen zu schließen, um im Dunkeln zu liegen. Ihm ging es ja gut, er hätte zu jedem Zeitpunkt verreisen können, ans Mittelmeer, an Nord- oder Ostsee, genauso gut auch nach Übersee, bis zum Chinesischen oder Indischen Meer. Nach all dem war ihm aber nicht.

Er fühlte sich dumpf, vielleicht leer. So war er eingeschlafen in seinen Kleidern.

Dann hatte ihn das Schrillen des Telefons geweckt. Sie war am Apparat. Mitten in der Nacht hatte sie ihn angerufen, mit dieser sanften, abwartenden Stimme. Warum rief sie ihn an? Er fragte nicht, sie sollte nichts erklären, und sie tat es auch nicht, er hörte ihr Lachen und er sagte, ich finde dieses unser Blödsein richtig schön.

Das meinte sie auch.

Komisch, ist es nicht komisch?

Sie wollte einmal mit ihm auf einer schwimmenden Flussterrasse sitzen, auf einem aus Baumstämmen verhakten Floß, das gleich unter der Brücke am Ufer festgemacht war. Eine Stunde vor ihrer Abfahrt setzten sie sich unter die tief hängenden Zweige einer weit über das Wasser gebeugten, mächtigen Silberweide. Die Sonne brannte aus einem blauen Junihimmel, es war mitten am Nachmittag und niemand sonst auf dem Floß. Vom Hüttenschank hatten sie zwei Weißweinschorlen mitgenommen und waren damit auf einer der orangefarbenen Holzbänke zusammengerutscht, und zwar so, dass sie gegen die Strömung blickten. Es war, als wollte der Fluss mit geschwellter Gleichmäßigkeit über ihre Füße und auch über ihre Gesichter strömen. Die meiste Zeit vergaßen sie zu reden, schauten scheinbar unentwegt auf das dunkelsilberne Strömen und auch auf einen jungen, schwarzweiß gefleckten Enterich, der irgendwie verzagt unter ihren Blicken hin und her schwamm und dabei dünne, trompetenähnliche Schreie ausstieß.

Wie immer spürte er, dass sie etwas Wichtiges nicht sagen konnte.

In der Nacht, als ihre Beine und Arme ihn umklammerten , aber eigentlich noch bevor sie in seine Wohnung mitgekommen war, hatte sie mehrmals, freilich zwischen langen Pausen, kaum hörbar geseufzt und beinahe in anklagendem Tonfall deklamiert: Du gehst ja auch wieder fort – du gehst ja auch wieder fort. Jetzt wusste er, es war kein anklagender Satz, es war der von Wehmut getragene Ton einer Angsterfahrenen.

Und sie sagte immer wieder: Komisch, ist es nicht komisch?

Und kicherte, und ihre Augen lachten mit. Er fragte nicht, was warum komisch war, sagte wie sie, aber ohne zu kichern: Ja, komisch. Und wusste, was sie meinte. Sie wollte unbedingt einmal mit ihm auf der Floßterrasse sitzen, über dem strömenden Wasser des Flusses. Sie sah ihn andauernd an, als wundere sie sich über ihn, als könnte sie sich selbst und diesem Augenblick jetzt nicht trauen. Später, viel später im Bett, zog sie seinen Kopf unter ihr Kinn, drückte ihn unter die Decke an ihre Brust, bis er nicht mehr Luft genug hatte und sich gewaltsam frei machen musste.

Sie biss ihn nach einem Auflachen in die Wange, dann in die Nase, biss schmerzhaft in seine linke Schulter, er schrie auf, glaubte tatsächlich, dass zumindest sein Gesicht verunstaltet sei, aber auf seinen tastenden Fingern sah er kein Blut. Sie lachte, und er fühlte das warme Fleisch ihrer Brust unter seiner Hand, an seinem Mund. Wie ein Kind, das sich an seine Mutter klammert, Liebe und Geborgenheit suchend, nein, wie eine Frau, die zur Selbstaufgabe bereit war, hatte sie Arme und Beine um ihn geschlungen. Trunken, schlaftrunken noch, besitznehmend von ihm, dem Fremden.

Verstehst du? Ja, du verstehst, wiederholte sie in der Nacht immer wieder, zwischen dem einen und dem anderen Schlaf.