Am schönsten aber ist mir das Kochen, wenn die zwei netten, dicken Schriftstellerinnen in meine Gaststube kommen. Sie haben immer etwas auf dem Herzen, meistens sind es unverdauliche Liebesgeschichten. Zumindest ein Mal pro Liebessaison suchen sie Erholung in den Bergen, ich glaube, weil man da weiter sieht, nicht nur vorwärts, sondern auch rückwärts. Und im Rückwärtsschauen kenn ich mich aus, das hab ich von meinem Onkel Miklós gelernt. Der Miklós Bácsi hat es als Kind in Budapest aufgeschnappt, bei einem Schuster namens Kiss Béla. Auf seinem Weg zur Schule ist er nämlich immer bei Bélas Werkstatt vorbeigekommen. Und weil der Kiss Béla zwar etwas kurzsichtig war, aber keineswegs blind, hat er meinen Onkel hineingerufen, damit er sich zu ihm setzt und ihm zuhört. Oberstes Gebot beim Zuhören und in alle Richtungen schauen ist zuallererst: Das harte Brot auf die Herdplatte legen. Knoblauch drauf reiben. Essen. Zischend ausatmen. Wenn dann das Scharfe auf der Zunge ganz langsam nachlässt und man dabei die Augen schließt, kann man sich erinnern oder vergessen, man kann dem Hämmern des Kiss Béla zuhören oder an übermorgen denken. Alles ist möglich auf der Basis eines Knoblauchbrots, zubereitet auf einem Sparofen. Und deshalb schick ich den zwei netten, dicken Schriftstellerinnen zuallererst und ohne zu fragen einen Riesenteller duftender Pusztaseelentröster hinaus. Die eine, die, die immer ihren Liebeskummer mit hinauf schleppt, kriegt dann gleich so ein glitzerndes Flackern in ihren rotgeweinten Augen, und wenn sie beim letzten Bissen angekommen ist, dann merke ich schon, dass das Rote aus ihrem Gesicht verschwindet und sich wärmend in ihr selber ausbreitet. Dann ist der Zeitpunkt gekommen, Hortobágyi palacsinta zu servieren, deren Geheimnis in der richtigen Mischung aus süßem und scharfem Paprika liegt. Dann weiß ich auch, dass die zwei netten, dicken Schriftstellerinnen bald übermütig genug sein werden, zwei doppelte Portionen Somloer Nockerl zu bestellen, um dann ihren Vergessensspaziergang wagemutig fortsetzen zu können. Das Rückwärtsschauen-Spezial-Menue wirkt fast immer und bei fast allen, denn es lindert das Traurigsein. Komisch, dass es mein melancholisches Herz so gar nicht sonnig stimmen kann. Im Gegenteil. Mir wird schon ganz schwer, wenn ich nur an den Geruch von Knoblauch denke. Vielleicht liegt das daran, dass man bei der Zubereitung den eigenen Seelensommer aufbraucht. Vielleicht kann man sich das Schönsein nicht selber kochen. Vor allem nicht im November. Wenn die Nacht so schwarz ist wie die Erde in Agendorf. Ich sitze an einem meiner Gasthaustische und versuche mich am Pálinka zu wärmen. Auf meinem Gesicht brennen weißkalte Spuren aus meiner Kindheit. Ich sage: Ich will nicht so Stursein im Traurigsein. Ich sage: Ich will. Ich will den Miklós Bácsi wiederhaben. Zumindest. Ich will, dass er mich anschaut und gleichzeitig die Gyulai Kolbász ganz dünn aufschneidet, als ob das ganz normal wäre. Ich will, dass er mir ein Miklósbácsilächeln zum Geburtstag schenkt. Stattdessen sitze ich allein an einem Tisch, nur in Gesellschaft einer Flasche voll mit schlecht gebranntem Schnaps. So findet mich dann an vielen Morgen der Joschi, mein Kellner. Er stellt mir einen Häferlkaffee auf den Tisch, rüttelt mich leise an der Schulter und sagt: Nichts. Das gefällt mir. Und dann sagt er noch: Susi, ’s isch Zeit. Er wohnt unten im Tal und bringt immer alles mit, was wir in der Küche brauchen. Gemüse und Obst, Mehl und Zucker und den neuesten Tratsch vergisst er auch nie. Beim gemeinsamen Gemüseputzen erfahr ich dann, was ich später zum Kochen brauche. Wenn zum Beispiel die Briefträgerin mit ihrer Familie am Sonntag zum Essen heraufkommt, wenn ich da nicht wüsste, dass sie sich immer noch nach ihrer Jugendliebe verzehrt, würden wir ihr vielleicht noch das Falsche servieren, und anstatt ihren Kummer zu lindern, könnte er dadurch noch größer werden. Also Kasknödl. Oder der Sohn vom Fleischer, der immer dieses Mirdochwurschtgehabe vor sich herschiebt. In Wirklichkeit ist er Vegetarier und spricht mit den Kräutern, die er im Garten zieht und exklusiv an uns verkauft. Typischer Kandidat für Paradeisersuppe und danach Schwammerlgulyas nach Art von mir. Die reichste Bauerntochter weit und breit mit leichtem Hang zur Legasthenie, die alle in der Schule immer ausgelacht haben, um laut zu spotten: Isch jo wurscht, Kia kennen eh net lesen. Der Joschi hat sie oft dabei beobachtet, wie sie noch in der Nacht in ihrem Zimmer gesessen ist und geschrieben hat. Sie schreib Gschichtn. Und Gedichte und so was hat der Joschi mir an einem Morgen gesagt und den Häferlkaffee inbrünstig vor mich hingestellt. Ich habe keine Ahnung, wie er das aus ihr herausgekriegt hat, aber seither bekommt sie bei uns immer den Poetenteller, phantasiebeflügelnde Linsensuppe mit Estragon. Ich hege ein bisschen den Verdacht, dass der Joschi hofft, in einer ihrer Geschichten den Helden zu spielen. Die prächtigen Abenteuer des Josef Unterholzner. Wenn der Joschi nicht wär, dann hätte ich jeden Tag November. Frühlingsnovember, Sommernovember, Herbstnovember, Novembernovember. Winter. Und nach dem Winter fängt wieder alles von vorne an. Ich denke: Eléggé boldog szakácsnő vagyok! Ich bin eine ziemlich glückliche Köchin, weil man mir prächtige Abenteuer zum Häferlkaffee serviert. Die prächtigsten Abenteuer sind nämlich die, die gut zu einem Stück Marillenmarmeladebrot passen. Manchmal holt der Joschi mir auch die Decke, die mir mein Miklósonkel genäht hat und hängt sie mir um, damit ich ihm besser zuhören kann. Ich höre zu und höre zu und währenddessen vergeht mir der Schnapsgeschmack auf der Zunge, vergeht mir die Novembertraurigkeit und wenn er dann mit einem letzten bedeutungsvollen Ausrufezeichen seine Erzählungen beendet, kann ich aufstehen, die Decke zusammenlegen und in die Küche gehen.

Wir haben keine Speisekarte, wir kochen, was dem Tag zu Gesicht steht, was uns selber schmeckt oder was sonst gerade angebracht ist. Manchmal sagt der Joschi zu mir: Koch mir was aus Agendorf. Aber das kann ich nicht, weil ich alle Gerüche aus meiner Kindheit dort gelassen habe und weil ich mir immer noch denke, dass ich sie einmal abholen werde. Wenn ich dann zurückkommen würde, würde ich das Gasthaus einen Tag lang zusperren und mich mit dem Joschi durch meine blassen Erinnerungen kochen. Wir würden schon zum Frühstück Sterz mit Rahmsuppe essen, zu Mittag Grammelpogatschn als Gruß aus der Küche, dann süß marinierten Gurkensalat zum Paprikahendl. Danach Pause. Um halb vier Gerbeaud-Schnitten ohne Schokoladenglasur. Und am Abend Lángos bis uns schlecht wird, denn nichts ist so gut für die Freundschaft wie zwei Knollen Knoblauch gemeinsam gegessen. Wenn ich einmal nach Agendorf fahre. Dann.

An einem dieser seltsamen Novembersommertage kommt der Joschi in die Küche und sagt: Da ist einer, der will … Er schaut auf seinen Zettel und sagt: deifölösch bablewesch. Ich atme ein. Ich sehe meine Freundin Erszi, wie sie gemeinsam mit mir am Tisch bei der Ofenbank sitzt und Rahmbohnensuppe isst. Zuletzt habe ich Tejfölös bableves gegessen mit fünf. Mein Vater legt die dunklen Bohnen am Vorabend ins Wasser. Er schält den Knoblauch, er holt den Rahm vom Bauern in der hinteren Gasse. Erzsi und ich kommen vom Garten herein und dürfen die Suppe essen ohne vorher die Hände zu waschen. Rahmbohnensuppe ist die erste Lieblingsspeise meines Lebens und schmeckt am besten, wenn man Erzsi gegenübersitzt und danach im Garten ausprobiert, ob der Knoblauchhauch die Hühner vom Nachbarn ohnmächtig werden lässt. Man muss dabei versuchen auf seinen eigenen Atem zu schielen, was natürlich am besten im Winter funktioniert. Die Hühner von der Ildikó und dem Jancsi haben sich leider nicht beeindrucken lassen. Schade, denn das hat unsere Zukunft verändert, wie wir schon damals ganz richtig erkannt haben. Erzsi und ich wollten Erfinderinnen werden und unser erstes bahnbrechendes Agendorfer Erfindungswunder sollten Hühnereier mit integriertem Knoblauchgeschmack sein. Ich atme aus. Mehr als zwanzig Jahre sind vergangen, dass ich den großen Suppenlöffel in bableves getaucht habe. Ich schiebe Joschi etwas unsanft zur Seite und schau in die Gaststube. Der einzige Gast, dem ich diese unerhörte Anfrage zumuten würde, dreht mir den Rücken zu. Ich kenne ihn nicht. Ich gehe hinaus, meine Arme verschränken sich vor der Brust. Gnädiger Herr! Hier gibt es keine Rahmbohnensuppe. Hat es nicht gegeben, wird es nicht geben und überhaupt hat niemand Bohnen eingelegt. Wenn Sie also bableves wollen, dann kochen Sie sie am besten selber, fragen Ihre Mama oder Sie kommen morgen wieder und vielleicht kann man Ihnen dann eine servieren. Aber sicher ist das nicht. Ich sehe mich in zwei Augen wieder, amüsiert und erschrocken schaut mich der Rahmbohnensuppenmann an. Komisch, denke ich ohne nachzudenken. Und: Sommerfrühling. Ich trete die Flucht in die Küche an. Joschi reicht mir den angefangenen Pálinka von gestern Nacht. Der gnädige Herr bittet wenigstens um Speckknödel. Und bekommt sie. Joschi und ich reden den ganzen Tag nichts mehr miteinander. Der Fremde geht und ich sehe durchs Küchenfenster, wie er sich noch zweimal nach unserem Gasthaus umdreht. Er ist mittelklein und mittelgroß und sieht von hinten sehr schön aus. Als ich mich am Abend zu meinem Tisch setze und mir Decke und Schnaps umhänge, sehe ich den klein bekritzelten Zettel unter der Estragonpflanze. Nagyságos asszony! Gnädige Frau! Meine Mama mochte keinen Rahm, und daher hatten wir auch nie tejfölös bableves auf unserem Speiseplan in Debrecen. Ungern möchte ich mich darauf verlassen, ob ich morgen bableves bei Ihnen kriegen kann oder nicht. Seit Tagen denke ich an nichts anderes und muss sie nun endlich haben. Ich selber bin ein glühender und schlechter Suppenkoch. Bitte leisten Sie mir morgen beim Verzehr der Suppe Gesellschaft. Ich werde sie höchstpersönlich auf den Berg zu Ihnen hinbringen. Csókolom, Endre. Ich fange unter meiner Decke zu schwitzen an. Die Flasche ist leer und mein Schlaf übernachtet irgendwo anders. Und so findet mich am folgenden Morgen der Joschi auf der Bank vor dem Gasthaus. Er geht in die Küche und kommt mit zwei Knoblauchbroten zurück. Für den Kiss Béla! sagt er. Und fürs Rückwärtsschauen. Für die Ildikó und den Jancsi. Und für ihre Hühner, sage ich. Wir grüßen hinüber nach Agendorf. Zur selben Zeit steht Nagy Endre in der Kochnische seines Ferienappartements in Lana und schaut der Suppe beim Kochen zu. Er ist sich nicht sicher, ob er den Knoblauch zerdrücken, in kleine Stücke schneiden oder ganz lassen muss und entscheidet sich für alle drei Varianten. In zwei Stunden wird er sein tejfölös bableves in einen Korb stellen und sich auf den Weg machen. Er wird zweimal über seine Vorfreude stolpern und etwas von der Suppe verschütten. Joschi wird ein Reserviert-Schild auf den Tisch bei der Ofenbank stellen und zwei große Suppenlöffel dazulegen. Und er wird so tun, als ob nichts passieren würde beim gemeinsamen Essen der ersten Lieblingsspeise des Lebens.