Im Brustkorb der alten Frau rasselt es, als rieben Steine darin. »Klack, klack, klack.« Das grausame Spektakel wird nicht besser dadurch, dass ich bis zur Unkenntlichkeit verhüllt vor ihrem Krankenbett stehe: mit einem Schutzmantel, einem Mundschutz und giftgrünen Gummihandschuhen. Es riecht nach Desinfektionsmittel und vielleicht ein wenig nach Tod.

 

Das Pflegeheim erlaubte diesen Besuch. Diesen einzigen Besuch nur! »Der Pandemie wegen«, heißt es. Die Frau mit dem Steingerassel in der Brust ist meine Mutter. Muss ich Abschied nehmen von ihr?

Ihre geschlossenen Augenlider flattern insektenflügelgleich und sie murmelt Laute in einer Sprache, die ich nicht verstehe. Es klingt fast wie Insektengebrumm. Erkennt sie meine Stimme, spürt sie meine Nähe? Ich bin mir selbst fremd. Im Streiflicht eines Spiegels gleiche ich einer Astronautin in lebensfeindlichem Terrain, dabei erfüllt mich die Ohnmacht eines Kindes, alleingelassen im Nirgendwo. Vor mir liegt die Frau, die mich geboren und erzogen hat, dennoch fühle ich mich mutterseelenallein. Ein schlimmes Wort, dieses MUTTERSEELENALLEIN.

 

In der Nacht durchstöbere ich schlaflos Mutters Kleiderschrank. Rieche an Blusen, Röcken, Pullovern, Nachthemden und Kleidern, die ihren Duft verströmen. Selbst die Reißverschlüsse riechen nach ihr. Nach Mutterliebe, vermischt mit der bitteren Süße von Veilchen. Berauscht von diesem Duft leuchten Szenen in mir auf: Die Mutter als Geschäftsfrau an der Kasse unseres Ladens, zu jedem Einkauf gab es damals ein gutes Wort dazu. Auf Wunsch auch Kochrezepte, obwohl der Mutter selbst wenig Zeit zum Kochen blieb. Die Mutter in schwarzer Seide bei meiner Konfirmation. Der Stoff knisterte bei jeder Bewegung, und an jedem Ohrläppchen hing eine Perle wie ein Tropfen aus Tau. Die Mutter mit vor Stolz geröteten Wangen und Grübchen bei meinem Schulabschluss. Die Lücke zwischen ihren Schneidezähnen blitzte hell in ihrem Lachmund. Sie war mit Zahngold unterlegt, vom Vater »das goldene Tor« genannt, wobei die Lücke eher klein war. »Nenn sie besser ›die Goldene Pforte‹, du Simpel«, beschwerte Mutter sich, wobei sie ihrem »Simpel« nie lange böse war. Wir Kinder mochten diese Zahnlücke. Wessen Mutter lachte schon auf Goldgrund? Und sie lachte gerne. Lachte sogar, wenn sie todmüde war vom vielen Sitzen an der Ladenkasse.

                                                                                     

Tief in Mutters Schrank verborgen ertaste ich einen Schuhkarton. Darin schlummern in Seidenpapier verpackte Sandalen. Aus ihrem Dornröschenschlaf befreit leuchten sie in Alabasterweiß und sind so fein gearbeitet, als kämen sie aus einer anderen Welt. So blütenfein. Der Aufdruck auf dem Karton ist vergilbt, »Venezia, Ponte di Rialto« entziffere ich mit Mühe. Meine Mutter ergänzte in ihrer runden Handschrift: »Meine Hochzeitsschuhe. Auf der schönsten Brücke der Welt gekauft, im Mai 1958.« So könnte ein Roman beginnen. Und was ich nicht weiß, erfinde ich.

 

Meine Mutter bereiste jedoch tatsächlich Venedig, von ihrer älteren Schwester Lolo bewacht. Ein flüchtiger Bekannter reiste den Schwestern tollkühn hinterher. Die eifersüchtige Lolo konnte nicht verhindern, dass sich die Liebe ins Herz meiner Mutter schlich. Nichts und niemand verhindert die Liebe in einer Stadt, von der es heißt: »Es gibt Venedig und es gibt all die anderen Städte.«

 

Mutters souvenir d´amour waren diese Sandalen. Ich möchte sie an meinen Füßen spüren, kämpfe mit den feinen Riemchen, den vielen Ösen, stolpere endlich auf den hohen Absätzen herum. Alles an mir wirkt unbeholfen. Sie schritt sicher elegant über die Schwelle der Stiftskirche in ihrer Heimatstadt an der Grenze zu Frankreich. Der gemeinsame Lebensweg meiner Eltern − begonnen in diesem halsbrecherischen Schuhwerk – dauerte fast sechzig Jahre lang und endete erst dann, als mein Vater nicht mehr aufwachte nach einem Mittagsschlaf. Zuvor hatte er noch den Familienhund spazieren geführt und Mutter auf ihre »Goldene Pforte« geküsst. Genau genommen auf ihr »Goldschnütchen«, wie er gescherzt hatte. Das Alter hatte ihn milder gemacht. Ein klitzekleines Küsschen zu einem kleinen Abschied, der ein großer werden sollte …

 

Ich finde mich mit keinem voreiligen Abschied ab und ertrotze einen weiteren Besuch in Mutters Pflegeheim. Es sieht nicht gut für sie aus. Gerade deshalb habe ich etwas Besonderes mitgebracht.

Behutsam öffne ich ihre auf der Brust verschränkten Hände und lege ihre Brautschuhe hinein. Irgendwann regt sich Leben in ihren Fingerspritzen, sie scheinen zaghaft zu tasten. Oder täuscht mich ein schlichtes Nervenzucken? In mir nagen Zweifel, als Mutter plötzlich die Augen aufschlägt und »die kenn ich« in dieser ungewohnten Stimmlage brummt, bevor sie wieder in ihrer Welt versinkt. Mich meint sie wohl kaum damit, wo ich wieder wie eine Sternenreisende verkleidet bin.

»Die Patientin spricht? Sogar verständlich? Das ist ein kleines Wunder, aber noch keine Garantie«, meint eine Krankenschwester. Ich bin entsprechend hin- und hergerissen. Dämmert die schwer atmende Gestalt in den Tod oder schläft sie sich gesund?

»Mutter, der Zauber deiner Brautschuhe wirkt immer noch«, höre ich mich mit bemühter Fröhlichkeit flöten. Ihre mageren Hände erschrecken mich, jedes Knöchelchen erkennt man darin, doch mit diesen Papierknöchelchen hält sie die Schuhe fest.

»Du bist leichtfüßig über die Tanzfläche geschwebt bei deinem Brauttanz«, säusle ich noch, in dem Wissen, dass meine Eltern leidenschaftlich gerne getanzt haben.

 

Ich bilde mir ein, dass sich in Mutters Gesicht ein Grübchen regt. Ganz zaghaft nur, wo sie doch früher voller Leben war. Für jeden ein gutes Wort, für jeden ein »Goldpforten-Lächeln«. So viel Zeit musste sein im Geschäft. Eigentlich war sie genau die richtige Frau für blütenfeine Sandalen aus der Stadt des emsig zelebrierten Untergangs.

Mutter mit Gummihandschuhen zu streicheln, wage ich kaum, dabei trage ich heute blaue. Man könnte fast sagen: »Im wässrigen Blau der Lagune.«

Jeannine Meighörner

Jeannine Meighörner

Geboren bei Rheinkilometer 384,00. Lebt als Autorin in Innsbruck. Studium der Geistes- und Medienwissenschaften. Stipendiatin im Künstlerhaus der Republik Österreich in Rom 2015, Publikumspreis „Wiener Werkstattpreis“ für Literatur 2015. Ihr neuer Roman „Die silberne Riesin“ erschien 2022 (Michael Wagner Verlag). Mag Nashörner.