Die Nachricht hatte sich herumgesprochen wie ein Lauffeuer. Zuerst unter den Kollegen bei der Seilbahn, bald darauf wussten es auch die Sommerfrischler oben am „Joch“. In der Gondel war es passiert, über die Seilbahn gelangte die Aufsehen erregende Neuigkeit schlussendlich bis ins Tal: Ein „Bahneler“, ein Angestellter der Seilbahn, hatte einen ordentlichen Batzen Trinkgeld bekommen. Von einer arabischen Prinzessin. Einfach so.

Dazu muss gesagt werden: Südtiroler geben üblicherweise kein Trinkgeld. Was anderswo zum guten Ton gehört und aus dem Alltag nicht mehr wegzudenken ist – in Südtirol wird der großzügig zahlende Kunde sofort als Tourist entlarvt. Nördlich des Brenners mögen die Gepflogenheiten andere sein, und weiter im Süden gibt es sowieso den „coperto“ – jene ominöse Pauschale fürs Gedeck, vor der jeder Italien-Reiseführer warnt. Aber Südtirol ist, zumindest was das Thema Trinkgeld betrifft, ein gallisches Dorf, das so manchem äußeren Einfluss erfolgreich trotzt.

Nicht, dass man hierzulande das Geld nicht nehmen würde. Aber in einem Land, in dem die meisten Kellner angestellt sind und von ihrem Lohn leben können, haben Gäste keinen Ärger zu fürchten, wenn sie nach dem Bezahlen der Rechnung das Wechselgeld wieder einstecken. Bei besonders guter Bedienung mag vielleicht der eine oder andere den Rechnungsbetrag etwas aufrunden. Erwartet wird dies aber nicht. Weder in Restaurants, noch im Taxi, und schon gar nicht in der Seilbahn.

Ob im Winter die Skifahrer oder im Sommer die Wanderer – es ist stets dasselbe Prozedere: An der Talstation in Oberlana stellt man sich zuerst, je nach Saison und Tageszeit, in die dementsprechend lange Schlange der Wartenden. Hat man es dann, nach dem Lösen der Karte, zusammen mit zwei Dutzend anderen Fahrgästen in die Gondel geschafft, ist immer auch ein Mitarbeiter der Seilbahngesellschaft dazugestiegen: Der so genannte Bahneler. Dieser Bedienstete war in erster Linie für die Sicherheit in der Gondel zuständig. In einer Zeit vor der Erfindung der automatisch schließenden Tür bestand seine sicherheitstechnische Aufgabe vor allem darin, die Türen der Gondel vor der Abfahrt zu schließen und kurz nach der Ankunft in der Bergstation wieder zu öffnen. So ähnlich wie Liftboys in ausgewählten Hotels, nur dass es beim Bahneler ausschließlich ein Stockwerk zur Auswahl gibt: Die Bergstation. Als ich früher oft mit der Seilbahn rauf aufs Joch fuhr, fiel mir immer wieder auf, dass viele dieser Bahneler aus dem nahe gelegenen Ultental kamen – eines jener Südtiroler Täler, in denen der Dialekt seiner Bewohner zunehmend unverständlich wird, je weiter man ins Talinnere vorstößt.

Tief drinnen im Ultental finden sich auch noch jene selten gewordenen Bergbauernhöfe, die seit vielen Generationen von der selben Familie bewirtschaftet werden. Viele dieser Bergbauernsöhne, die nicht zu den Erstgeborenen zählen und somit keinerlei Aussicht auf den eigenen Hof haben, suchen seit jeher ihr Glück in der Ferne. Und stranden meist in Lana. Dort finden sie oft Arbeit als stundenweise bezahlte Erntehelfer auf den Obstwiesen, so genannte „Klauber“, oder als Hilfsarbeiter in den unterschiedlichsten Betrieben, eben auch bei der Seilbahn. Neben ihres eigentümlichen Dialekts sind sie oft auch aufgrund ihres Aussehens erkennbar: Stramme Naturburschen mit sonnengegerbter Haut, gut durchbluteten roten Wangen und klobigen Bergschuhen, darunter die handgemachten Socken aus der Wolle der eigenen Schafe. In ihrer Erscheinung als Bahneler haben sie stets jenen Schlüssel, der die Türen der Gondel verschließt, in den Händen. Hände, die sich am besten als Pranken beschreiben lassen. Um die eigene Sicherheit hat man sich im Bahnl also nie Sorgen machen müssen.

Das urgewaltige Erscheinungsbild eines solchen Bahnelers scheint also auch jenen hohen Besuch aus dem fernen Orient beeindruckt zu haben, der sich eines Tages im Hotel am Vigiljoch angekündigt hatte. Kurz nachdem der Bursche die Gondel mit der adeligen Kundschaft oben in der Bergstation aufgeschlossen hatte, passierte das völlig Unerwartete: Die mit prächtiger Seide verschleierte Frau ließ dem verdutzten Bahneler von ihrem Gefolge einen rosa Geldschein in die Pranke drücken. Ganze 50.000 Lire! Damals war das richtig viel Geld, für einen einfachen Arbeiter entsprach das gut und gerne einem ganzen Tageslohn. Schon allein die Summe war aus zuvor erwähnten Gründen völlig absurd.
Nach diesem Aufsehen erregenden Vorfall hatten die Bahneler das sich neu erschließende Geschäftsfeld rasch für sich entdeckt: Ohne mit der Wimper zu zucken wurde beim Gepäck der prominenten Kundschaft mit angepackt. Manch einer soll sogar damit begonnen haben, Englisch zu lernen. Trotz alledem hat es seither keine Berichte mehr gegeben, dass ein Arbeiter der Vigiljocher Seilbahn jemals wieder ein Trinkgeld in einer derart irrwitzigen
Höhe bekommen hat. Offenbar hat man dort gelernt, im Umgang mit der erlauchten Kundschaft Diskretion walten zu lassen. Das verblüffte Gesicht jenes glücklichen Bahnelers, der von einer arabischen Prinzessin so viel Trinkgeld bekommen hat, hätte ich für mein Leben gern gesehen.