Als die Gondel die Talstation verlässt, lächle ich das erste Mal seit langer Zeit. Niemand weiß, wo ich bin, das Handy ist aus und ich schwebe.
Das Hotel hält alles, was Homepage und Bewertungsportale versprachen, und als ich meinen Koffer auspacke, macht sich in mir so etwas wie Erleichterung breit. Die Ernüchterung kommt beim Aperitif, als ich zwei Tische weiter eine meiner Patientinnen sitzen sehe. Statt wie geplant die Weite der Landschaft auf mich wirken zu lassen, starre ich wie gebannt auf diese Frau. Noch wäre Zeit zu verschwinden, mich aufzulösen, aber da dreht die Patientin den Kopf und ihr Gesicht leuchtet auf.
»Frau Kruse«, ruft sie, erhebt ihr Glas und sich und befindet sich schon an meiner rechten Seite. Zuprosten, Banalitäten austauschen, freundlich lächeln. Und irgendwann halte ich es nicht mehr aus und atme tief durch. Der würzige Duft der nahen Bäume brennt sich in meine Lunge.
»Maria«, ruft der Partner der Patientin und die Angesprochene beugt sich vertraulich zu mir, bevor sie dem Ruf folgt. »Bis später!«, wispert sie.
Im großzügig angelegten Restaurant ersuche ich um einen Tisch im Eck, weit weg, am besten dort drüben. Maria, nun umgekleidet, steuert meinen Nachbartisch an und wehrt alle Einsprüche des Chefs de Rang ab, der auf einen Tisch am anderen Ende des Saales zeigt.
»So ein Zufall«, zwitschert sie, und sie nimmt mir nicht nur meinen Appetit, sondern auch meine Aussicht. Auf die Berge und auf meine Ruhe, auf das unbedingt notwendige Alles-hinter-mir-Lassen. Also gehe ich und ziehe rastlos durch das Hotel.
Erst als ich unter der heißen Dusche stehe, bin ich wieder so weit bei mir, dass ich merke, wie sehr mein Magen knurrt, also beschließe ich, mein Glück nochmals im Restaurant zu versuchen. Just in dem Moment, als ich die Türe öffnen will, klopft es ebenso laut wie nachdrücklich.
»Ich dachte, Sie müssen sterben vor Hunger«, schiebt sich Maria strahlend an mir vorbei und stellt ein Tablett voll Leckereien vom Buffet am Tisch ab. Bevor ich den Mund öffnen kann, sitzt sie auf meiner Bettkante, beginnt sich ein Brot zu schmieren und lädt mich mit einer Handbewegung ein, sich zu ihr zu setzen.
Ich nehme sie nur verschwommen wahr, am deutlichsten drängt sich mir ihr perfekt geschminkter Mund auf, der sich ohne Unterlass bewegt. Die Stille dröhnt und ich drohe zu ersticken.
Plötzlich platzt der schrille Klang ihrer Stimme direkt in die Zellen meines Körpers und ich stürze mich auf das Kissen und dann auf sie.
Nun atme ich Stille, und in mir ist es hell und weit.
Ich zucke zusammen, werde mir meiner steifen Glieder bewusst, richte mich auf und sehe mich verwirrt um. Gläserklirren, fröhliches Geplauder der mich umgebenden Gäste und lautes Lachen zwingen mich zurück ins reale Hier und Jetzt, und die Wirklichkeit durchdringt mich in Wellen. Die Patientin, die ich noch immer anstarre, winkt schüchtern zu mir herüber und wendet sich gleich wieder ihrem Partner zu. Ich schlucke schwer, betrachte mein Weinglas und muss erkennen, dass es schon wieder passiert ist. Dass ich abermals in einer anderen Welt verschwunden bin, in der ich keine Kontrolle habe.
Das Abendessen verläuft reibungslos und von der Patientin sehe ich nur den rot eingekleideten Rücken.
Am nächsten Morgen werde ich von aufgeregten Stimmen, die vom Gang zu mir dringen, geweckt. Auf dem Weg zum Frühstück hält mich der Partner meiner Patientin auf: »Ist Maria noch bei Ihnen?«
Ich werde darüber informiert, dass meine Patientin gestern am Abend noch an meine Tür klopfen wollte. Er sei eingeschlafen und nun sei sie unauffindbar.
Achselzuckend wehre ich ab. Um mich abzulenken, beteilige ich mich an der Suche. Sie wollte zu mir? Der rotgeschminkte Mund und die absolute Stille blitzen so hell in mir auf, dass ich meine, meine Augen schließen zu müssen. Zweifel legen sich auf mich wie Schatten.
Kaum bin ich zurückgekehrt in mein Zimmer, läutet das Telefon und ich kann das Lächeln der Rezeptionistin hören, als sie sagt: »Moment, ich verbinde«, und schon schweigt mich der Hörer so laut an, dass etwas in meinem Kopf zu platzen droht. Warum weiß er? Wo ich bin?
Ich zittere von innen nach außen, wische mir den Schweiß von meiner Stirn. Mein Mann. Der von allen bewunderte Charmeur, der mir das, was er Liebe nennt, ins Gesicht schlägt. Hat mich gefunden. Viel zu schnell hat mich die mich fast verbrennende Frage eingeholt, ob ich meine Zukunft ohne ihn gestalten kann.
Es klopft. Und ich lege schnell den Hörer auf. Vor der Tür stehen die Geschäftsleitung und der Sicherheitsbeauftragte, die alles von mir wissen wollen und denen ich nichts sagen kann, denn in meinem Kopf überlagern sich die Gesichter von meinem Mann und Maria, ihr grellgeschminkter Mund wetteifert mit seinen durch die Brillengläser vergrößerten Augen und schließlich untersuche ich in meiner Not das Kissen, das Lippenstiftspuren aufweist.
Heißt das …?
Das Rot meines Lippenstifts entspricht dem auf dem Kissen.
Und ich bin hierhergereist, um mit mir ins Reine zu kommen. Deshalb schultere ich meinen Rucksack und starte los.
Gleich am ersten Treppenabsatz werde ich von Marias Partner gestoppt, dessen Fragen mich hohl zurückzulassen drohen, und schon sehe ich mich wieder in die andere Welt abgleiten. Aber mit einem Mal erinnere ich mich an Marias wie nebenbei hingeworfene Bemerkung in meiner Praxis, dass sie ihren Partner zu verlassen gedenke und an meine grelle Angst vor ihren Worten.
Jetzt fügt es sich zusammen! Meine Aggression, meine Abwehr, meine Angst. Marias Mut. Klarheit spült mich durch und schwemmt meine Bedrängnis und Not weg. Erinnerte Gesprächsfetzen wehen eine Ahnung hoch, wo Maria sein könnte.
Ich wünschte, ich könnte beim Sessellift mittreten, um schneller mein Ziel zu erreichen! Ich renne und eile, und erst am Fuß des Hügels, auf dem das Vigilius-Kirchlein steht, mache ich Halt. Still geworden habe ich nun sehr viel Zeit.
So hoch, wie die Sonne am Himmel steht, sind die Berge, ist Marias Gestalt. Der Duft des Thymians steigt mir in die Nase und aufgeschreckt durch mein Niesen dreht sich Maria um.
Wir begegnen uns in der Mitte und mit einem Nicken teilt sie mir mit, dass ich ihr willkommen bin. Wir setzen uns nebeneinander ins Gras und ihre Präsenz ist hell und luftig. Ich höre ihren Atem und an meiner ihr zugewandten Seite wird es warm. Der Raum zwischen uns ist sauber wie frisch geputztes Glas, in dem sich das Licht spiegelt und uns reflektiert. Mal rückt die eine ein Stück zur Seite, mal tastet sich die andere näher, mal reichen wir uns das Wasser, dann ein Wort. Wir wenden uns der Sonne zu und staunen über die überraschend entdeckte Gemeinsamkeit, berühren uns mit Verständnis und Lächeln und schöpfen daraus Kraft.
Der uns umhüllende Duft des Thymians ist erdig und Marias Hand frisch und warm. Jetzt kann ich handeln.

Christine Wagner
Christine F. Wagner
Geb. 1963 in St. Pölten, Studium der Germanistik und Sportwissenschaften an der Universität Salzburg, Psychotherapeutin in eigener Praxis und Erwachsenenbildnerin, lebt und schreibt alleine und gemeinsam in unterschiedlichen Schreibkollektiven in Brixen, Südtirol. Beiträge in verschiedenen Anthologien und Lesungen bei Literaturfestivals, bei Prozessionen, in Festungen und in (Wein)Kellern