1. Juni 1971

Viel zu selten habe ich ihn besucht. Wegen der ständigen Reibereien.

Das letzte Mal dann, als ich dort war … »Johann«, hat der Vater zu mir gesagt. »Du und der Hubert, ihr müsst das machen. Für mich. Wenn es so weit ist.« Inbrünstig war er, damals zu Pfingsten, zu sich herunter ins Bett gezogen hat er mich, und hat mir seinen Plan ins Ohr geflüstert. So, dass es die Mutter nur ja nicht hört.

Gerade einmal drei Wochen ist das her.

Nie hätte ich gedacht, dass es so schnell gehen würde. Egal, wie absehbar es war. Egal, wie schlecht es ihm schon gegangen ist … Auf einmal war er nicht mehr da.

Morgen ist die Bestattung. Die Mutter hätte den Hubert und mich am Abend fast nicht gehen lassen. Aber es wäre nicht anders gegangen. Heute oder nie.

Unterwegs bin ich mir wie bei einem Bubenstreich vorgekommen. Absurd, gestern noch auf der Universität und heute dieser verrückte Auftrag.

Dunkel war es schon. Der Hubert und ich haben uns am Gasthof vorbeigeschlichen. Wie zwei Einbrecher. Na ja, irgendwie waren wir das auch. Nur nicht beim Wirt, sondern am Friedhof nebenan.

Über die Mauer waren wir schnell drüber. Nebelig war es zwischen den Gräbern und so still. Der Hubert ist gleich losgestapft, aber der Kies unter seinen Füßen hat zu laut geknirscht. Dann sind wir über die steinernen Umrahmungen der Gräber gehuscht, dass uns der Pfarrer nur ja nicht erwischt.

Die Tür zur Totenkapelle war versperrt, als ob Hochwürden schon gewusst hätte, dass wir kommen. Aber ein offenes Fenster haben wir auf der Seite der Kapelle gefunden. Dem Himmel sei Dank, sonst hätte sich die Seele vom Vater noch eingesperrt gefühlt.

Mit einer Räuberleiter sind wir in die Kapelle eingestiegen.

Beim innen Hinunterrutschen hat der Hubert, der Depp, mit seinem Schuh einen Streifen an der Mauer hinterlassen. Mit den Ärmeln haben wir versucht, ihn wieder wegzuputzen, während der Jesus uns vom Altar her Löcher in den Rücken gestarrt hat. Ganz ist er nicht weggegangen, der Streifen.

Der Hubert hat sich bekreuzigt. Ich mich auch. Als Entschuldigung.

Die Urne stand aufgebahrt am Sockel vor dem Altar, von vier Kerzen beleuchtet. Der Vater.

Grimmig hat der Hubert mir zugenickt und mir eine Hand auf die Schulter gelegt. Der Vater wollte befreit werden. Unser Auftrag.

Ich habe die zwei Sackerln aus der Jackentasche gezogen. Ein leeres und eines gefüllt mit der Asche aus dem Stubenofen. Der Hubert hat mir die Sackerln aus der Hand genommen und mir den Vortritt zur Urne gelassen. Klassisch.

Den starrenden Blick vom Jesus im Rücken haben meine Finger gezittert. Aber ich habe den Deckel aufgeschraubt. Dann war sie offen, die Urne.

Das ist also alles, was von einem Menschen übrigbleibt.

Gestaubt hat es, als wir den Vater umgefüllt haben. Auch Knochenstücke waren dabei.

Beim Tauschen der Sackerln hat der Hubert innegehalten. Sie seien nicht gleich schwer, hat er gemeint.

Dann sind wir noch einmal hinaus- und hineingeklettert und haben ein paar Kieselsteine in die Holzasche gemischt.

Danach sind wir zum Wirt gegangen. Den Vater hab ich mitgenommen, ein letztes Mal.

 

  1. Juni 1971

In der Kapelle war der graue Streifen an der Wand. Gut sichtbar. Zum Glück waren der Hubert und ich die ersten Trauergäste. Aber die Kränze und Blumengestecke lagen schon da. Hat der Pfarrer den Streifen nicht bemerkt? Oder hat er nur nichts gesagt?

Während Hochwürden draußen mit der Mutter geredet hat, haben der Hubert und ich einen der hohen Kerzenständer davorgeschoben. Dann kam der Pfarrer herein. Wir haben uns gerade noch rechtzeitig umgedreht, Schulter an Schulter mit unseren Körpern die Wand verdeckt.

Ob ich die Urne zum Grab tragen möchte, hat der Pfarrer mich gefragt. Natürlich! Hauptsache, er bemerkt die Kieselsteine nicht.

Die Predigt war schwer zu ertragen. Garantiert mit Absicht. Von wegen heimkommen in den Schoß der Gemeinschaft. Hochwürden hat sicher gewusst, wie unwichtig dem Vater der ganze Kirchenkram war.

Ehrlich versucht habe ich, mir den eigenen Schmerz nicht anmerken zu lassen. Aber am Weg zum Grab hat es mich dann erwischt. Die Urne war zwar leer, zu Grabe getragen habe ich den Vater trotzdem – in der Brusttasche vom Sonntagsanzug.

So hat er sich seine Beerdigung wenigstens auch anschauen können und hat gesehen, dass das ganze Dorf da war. Sogar die Verwandtschaft aus Innsbruck und aus Nürenberg ist angereist. Nach dem Erde-ins-Loch-Schaufeln haben auch sie brav die Sacktücherln herausgezogen und Rotz und Wasser geheult.

Ich hab die Tränen bestmöglich zurückgehalten. Schwäche zeigen hätte der Vater nicht gewollt. Vielleicht hat es ihn insgeheim aber doch gefreut, dass er uns nicht egal war.

Nach der Bestattung wollten der Hubert und ich uns auf den Weg machen, aber die Mutter hat so sehr ein Auge auf uns geworfen, dass nichts anderes übrig geblieben ist, als den Leichenschmaus auszusitzen.

Bin mir nicht sicher, ob sie es nicht vielleicht doch weiß.

Danach war es jedenfalls zu spät für die Tour und jetzt verbringt der Vater die zweite Nacht auf meinem Nachtkästchen. So viel Zeit haben wir schon lange nicht mehr gemeinsam verbracht, vor allem so harmonisch.

 

  1. Juni 1971

Ganz leise habe ich im Morgengrauen den Vater und mich zusammengepackt und das Motorrad zum Hubert hinübergeschoben. Der Dusel ist erst nach dem vierten Stein am Fenster aufgewacht.

Dann sind wir mit vollen Touren um fünf Uhr morgens durchs Dorf gerauscht. So, als ob wir die Fanfaren für den Vater ein letztes Mal geblasen hätten.

Hinauf auf den Berg wollte er. Mit den Maschinen sind wir oben bis zum Ende der Forststraße gefahren, dann zu Fuß weitergegangen, an den letzten Bäumen vorbei und zum Kar hinauf.

Die Sonne ist gerade aufgegangen und hat eine Aussicht über Ketten von schroffen Bergen bis zum Horizont freigegeben. Genau das, was der Vater so geliebt hat. Unter uns in der Senke lag der See, der Ort, wo er hinwollte. Vom Morgennebel verhangen, war er noch nicht zu sehen.

»Willst noch was sagen?«, hat mich der Hubert gefragt.

Ich hab das Sackerl mit der Asche aus der Brusttasche gezogen. Warm hat es sich angefühlt im Vergleich zur Temperatur oben am Berg. Aber die Sonne ist nicht hoch genug gestanden. Der See war noch im Schatten. Wie ihn die ersten Sonnenstrahlen erreicht haben, ist die Nebeldecke aufgerissen. Richtig geglitzert hat das in der Luft.

Ich hab mir auf die Zunge gebissen, hab es diesmal nicht geschafft, die Tränen hinunterzuschlucken. Aber es waren keine Worte mehr notwendig, weil es genau so war, wie der Vater es gewollt hat.

Die Asche ist mir durch die Finger gerieselt. Vom Wind ist sie davongewirbelt worden.

Er hat sie auf den See hinuntergetragen. Die Knochenstücke haben wir am Kar verteilt, für die gute Aussicht. Und so war es richtig. Mach‘s gut, Vater.

Ruth Anne Byrne

Ruth Anne Byrne

1975 geboren in Innsbruck, ist Meeresbiologin. Sie reist gerne, hat fast jeden Kontinent betreten und alle Weltmeere betaucht. Nun wohnhaft in Wien, geht nicht nur sie gerne auf Wanderschaft, sondern auch ihre Gedanken, die in Form von Geschichten für Kinder und Jugendliche und neuerdings auch für erwachsene Leser zu Papier gebracht werden.