Jedes Jahr, wenn in Frankreich die großen Ferien beginnen und die Städte in den Sommerschlaf fallen, erwacht ein kleiner Ort in der Provence. Dann wienern die Bewohner ihre Gästezimmer, sperren ihre Restaurants auf und schrubben selbst die letzte Imbissbude in der Hoffnung auf gute Geschäfte. Sie stellen Tische und Stühle auf den Dorfplatz und setzen „Menus Concert“ auf die Speisekarte.

Tausende Klavierbegeisterte werden für vier Augustwochen nach La Roque d’Anthéron zum Festival International de Piano strömen.

Ende der 70er Jahre erging es dem Ort wie so vielen französischen Dörfern: Die Jugend war in die Städte abgewandert, Cafés und Läden schlossen, das Dorfleben verödete. Der Zufall wollte, dass Pierre Oratini und René Martin einander begegneten. Bürgermeister Oratini träumte davon, den herrschaftlichen Park mit Musik zu erfüllen. Martin, ein junger ambitionierter Musikagent aus Nantes, erkannte sofort den Reiz des Ortes – das Festival war geboren.

Im Lauf der Jahre hat sich die Open-Air-Konzertreihe zum größten Klavierfestival der Welt entwickelt. Die Atmosphäre lockt Pianisten und Zuhörer aus ganz Europa herbei. Umrahmt von denselben Platanen, unter denen im 18. Jahrhundert der Comte de Florans mit seinen Maitressen flanierte, schwebt die Bühne wie eine halbgeöffnete Muschel inmitten eines Teichs. Abend für Abend schlendern Hunderte von Zuhörern durch den Park zu ihren Plätzen, um berühmte Pianisten zu hören und Newcomer für sich zu entdecken. Und während sich die Künstler im schwindenden Tageslicht an den Flügel setzen und die ersten Töne in die milde Abendluft schicken, verstummen die Zikaden. Die Zuhörer tauchen ein in ein Meer von Tönen. An manchen Abenden bleibt das Publikum sogar bis tief in die Nacht. Dann gestalten die Künstler die „Nuits de Piano“ und führen das Gesamtwerk einzelner Komponisten auf. Und wenn sie auf dem Heimweg die Nacht verschluckt, klingt in ihren Ohren die Musik nach, und sie wissen: Sie werden im nächsten Jahr wieder dabei sein, wenn das Dorf aus seinem Schlaf erwacht und für vier Wochen der Nabel der Klavierwelt sein wird.