Der Hund rennt vorneweg. Mit der Nase dicht am Boden wertet er geheime Informationen aus, die auf dem Weg vor ihm liegen und deren Bedeutung mir verborgen bleibt. Dabei erinnert er entfernt an einen Blinden, der seine Finger über die Seiten eines in Brailleschrift geschriebenen Buches bewegt. Ich laufe ihm hinterher, vorbei an Balmen, Höhlen, Bachschnellen und kleinen Wasserfällen. Der Hund beobachtet einen Ast, der auf dem Wasser treibt. Er sieht ihm eine Weile lang nach, dann zieht er ihn heraus und beginnt, auf dem Holz herumzukauen. Ich scheuche ihn weiter. Es beginnt langsam zu dämmern.
Im Dämmerlicht hielt der Professor seine Vorlesung. Es war Winter. Das spärliche Tageslicht drang kaum durch die Fenster des Vorlesungssaals. Der Professor schaltete noch kein Licht an. Er hatte nur an seinem Pult eine schwache Leselampe angeknipst. Manchmal sah er kurz auf seine Notizen, die meiste Zeit über sprach er frei, analysierte den „Lancelot en prose“, präzise und detailverliebt, wie es nur jemand konnte, der bereits sein gesamtes Leben mit dem Text verbracht hatte. Mit seiner leicht heiseren Stimme erzählte er die dramatischen Wendungen nach, sprach über Liebe und Freundschaft, Verrat und Verzicht, charakterisierte die Figuren, …
Eine Figur, ein Bild, vielleicht nur ein Schatten huscht über eine moosbewachsene Felswand. Der Hund bellt – bellt den Schatten an, so wie er alles anbellt, was sich bewegt. Er bleibt vor der Felswand stehen, schnuppert, vergewissert sich, dass von der Wand keine reale Gefahr ausgeht. Mit den moosbewachsenen Felswänden, den Höhlen, dem Wald, der direkt dahinter beginnt, wirkt die Schlucht wie ein verwunschener Ort, ein Schauplatz von Märchen und Sagen. Nur der Hund ist aus der Zeit gefallen, ein Bote aus der Zukunft, der durch diese Märchenlandschaft rennt – mit der klimpernden Hundemarke und den neongelben Leuchtreflektoren an seinem Geschirr.
Neongelb, Neongrün, Neonrosa – meine Unterstreichungen im Text waren farbcodiert. Ich versuchte, dem Professor zu folgen, kritzelte vor mich hin, so wie alle anderen ebenfalls hektisch mitschrieben, um keine wichtige Bemerkung zu verpassen. Außer der heiseren Stimme des Professors herrschte komplette Stille im Vorlesungssaal. Nur manchmal hörte man leise einen Stift auf dem Papier kratzen. Der Professor sprach nicht laut, musste er auch nicht, denn die Aufmerksamkeit des gesamten Saals gehörte ohnehin nur ihm. Er sprach über seine Lieblingsfigur – Merlin, den Zauberer.
Eine bärtige Gestalt läuft uns über den Weg. Der Einsiedler grüßt den Hund und mich, dann steigt er die Treppe hinauf zu der in eine Felshöhle gebauten Kapelle und schließt deren Tür ab. Die Wanderer, die Touristen, die Schulklassen und die Kindergartengruppen sind längst nach Hause gegangen. Um diese Uhrzeit kommt niemand mehr, der die Kapelle besichtigen möchte. Der Hund und ich laufen Seite an Seite, folgen einem Trampelpfad, immer weiter in den Wald hinein. Ein alter Mann kommt uns entgegen und lächelt uns an.
„Ein alter Mann – letztendlich war der mächtige Zauberer Merlin auch nur ein törichter alter Mann, so wie alle anderen auch…“, erklärte der Professor und lachte ein bisschen in sich hinein, denn er war der einzige alte Mann im Raum. All die jungen Gesichter sahen ihn fragend an. Der Professor erzählte, wie geschickt Merlin Artus durch Kriege, Konflikte und Intrigen geführt hatte und wie er schließlich selbst zu Fall gebracht wurde – von der Dame vom See, der er liebestrunken gefolgt war, die ihn, seiner Kräfte beraubt, in einem unterirdischen Verlies einsperrte. Als er zum Ende der Geschichte kam, war die Stimme des Professors kaum lauter als ein Flüstern: „Wenn Sie im Wald spazieren gehen und aus der Tiefe ein Ächzen hören, dann können Sie sicher sein, dass es der verwunschene Zauberer ist, der befreit werden möchte.“
Es knackt im Unterholz. Von Weitem höre ich ein Geräusch, das wie ein Seufzer klingt. Der Hund spitzt die Ohren und dreht sich um, ich nicht – denn ich weiß, was es damit auf sich hat.

Vera Hohleiter