Ich erwachte aus meinem Traum, als das Licht anging. Wie jeden Tag im Immigrations-Museum fragte ich mich, wer mich heute besuchen käme. Die Menschen, die mich anschauten, konnten unterschiedlicher nicht sein. Kinder, Teenager, ihre entnervten Eltern, Pärchen, Große, Kleine, Dicke, Dünne. Neugierig lasen sie das Schild neben mir. Oftmals änderte sich der Gesichtsausdruck der Besucher, wenn sie alles gelesen hatten.
Auf dem Schild stand mein Name: Verdi. Und meine Geschichte, die über die Jahre zu einem Mythos wurde.

Viel Zeit war damals nicht geblieben wegzukommen. Die Familie Ricci verließ Sizilien. Das waren die fünfjährige Elisabet und ihre Eltern Marthe und Giovanni. Ich bekam eine nie dagewesene Unruhe mit und öfter fiel ein Wort. Ein schweres Wort, das ich nicht verstand. Für mich fühlte es sich wie eine Flucht an.
Elisabets Mutter strich kurz über mein grünes Leder und packte danach hektisch die wenigen Habseligkeiten der Familie zusammen, während die Tochter orientierungslos in der Mitte des Zimmers, in dem sie hausten, stand. Ihr Gesichtsausdruck war mindestens genauso ratlos, wie meiner gewesen wäre. Zumindest, wenn ich ein menschliches Gesicht hätte. Ich war zusammen mit den Sachen, die sich jetzt in mir befanden, ihr einziger Besitz: zwei Unterhosen für jeden, ein Hemd, ein BH, eine Puppe für Elisabet, ein kleines Messer, eine Schnur. Und eine Blaupause. Die hatte Giovanni vorsichtig und von allen unbemerkt in mein Geheimversteck geschoben.
Als wir das italienische Städtchen mit 3000 Einwohnern und einer einzigen Kommunalbaustelle hinter uns ließen, warf keiner einen Blick zurück.
Auf dieser Baustelle durften die Männer der Familien einen Monat arbeiten, den Rest des Jahres hoffte man auf den 20-tägigen Weizenernteeinsatz im Sommer, um die Familie zu ernähren. Zwanzig Kilometer zu Fuß musste man dafür zurücklegen. Oft hatte Giovanni gestöhnt. Drei Uhr aufstehen, schlechte Straßen und Schlamm. Man sah nichts im Dunkeln und konnte leicht überfallen werden. Einigen seiner Mitstreiter war das Wenige, das sie verdienten, von Dieben abgenommen worden. Ihnen blieb nur ihr nacktes Leben – und der Hunger. „Das sind doch keine Zustände!“, rief Giovanni immer wieder.
Doch jetzt würde alles besser werden – in Deutschland.
Er glaubte daran und die anderen auch. Wir alle.
Eines Tages kam ein Mann und holte Giovanni ab. Nur ihn. Elisabet klammerte sich an seinem Bein fest.
„Keine Sorge, ich bin bald wieder da.“ Er zwinkerte ihr zu und Marthe nahm das Kind auf den Arm. Wortlos standen sie da.
Als er wiederkam, wirkte er verändert. Trotzdem zog er als Familienoberhaupt die Sache durch.
Elisabet nannte mich auf der Reise Verdi – wohl wegen meiner grünen Farbe. Marthe lächelte immer, wenn die Kleine mich so rief, vermutlich, weil der Name auch für gute Musik in Italien stand.

In Deutschland angekommen verteilte man uns ins Ruhrgebiet. Ich weiß noch, wie die Familie das erste Mal einen Raum mit mehr als fünfzehn Quadratmetern betrat. Elisabet rannte hin und her und rief: „Das gehört alles uns?“
Marthe nickte und bekräftigte, dass es eine gute Entscheidung war.
Ich wurde ausgepackt und im Flur platziert. Griffbereit.
Doch die Arbeit unter Tage erwies sich als schwer und gesundheitsgefährdend. Oft saß Giovanni in der Küche, trank deutsches Bier und schüttelte den Kopf. Elisabet versuchte ihn mit ihrer Puppe aufzuheitern, aber er schob beide weg. Seine Frau setzte sich gegenüber und goss sich auch ein Glas ein. „Was ist los?“
„Du kannst dir nicht vorstellen, wie das ist. 1000 Meter unter der Erde – das ist … das ist die Katastrophe. Keine Abbauhilfen, in den Gängen kann man nicht stehen und sich nicht drehen, wenn es über einem knackt, betet man, dass der Fels nicht einbricht.“
Daraufhin sprang Marthe auf und drückte ihren Mann an sich. „Wären wir doch nur -“
„Was? In Italien verreckt?“ Giovanni sprang auf. „Hier könnt wenigstens ihr überleben.“ Dann weinte er.
Marthe und Elisabet weinten auch.
Später, als Elisabet im Bett war, sagte Marthe: „Vielleicht kannst du bei der Gewerkschaft eine Eingabe machen? Ich meine, die Gänge werden damit nicht breiter, aber vielleicht können sie was anderes für euch tun?“
Daraufhin kramte Giovanni einen Zettel aus seiner Hosentasche und las vor: „Deutsch-italienischer Sprachführer für die Gewerkschaft und darunter steht Cari colleghi italiani!“ Er starrte den Zettel an und schüttelte wieder den Kopf. „Ich glaube, das ist sinnlos. Ich mache das nur noch so lange, bis ich genug Geld habe, etwas anderes zu machen.“ Dabei schaute er zu mir.
Wenige Tage später kam Marthe mittags vom Einkaufen nach Hause und fand ihren Mann aufgelöst am Tisch sitzen. Er hatte eine Flasche Fusel fast geleert. Ich konnte nichts tun als zusehen.
„Giovanni, was ist passiert?“
Giovanni drückte seine Frau an sich. „Oh Gott! Ich … ich war heute spät dran, weil … weil … weil ich noch mit einem Deutschen sprach, der … der zeigte Interesse an meiner Idee. Daher konnte ich nicht mit der ersten Fuhre in den Berg hinab. Ich konnte nicht.“ Giovanni bekam einen Weinkrampf.
Marthe hielt seine Hand. „Aber das ist doch sicher nicht so schlimm. Gibt es nicht mehrere Fuhren?“
Er schaute sie an. „Marthe, die Männer … sie sind … verschüttet. Man hat alle anderen nach Hause geschickt.“
„Oh nein! Was ist mit dem Mann von Luciana?“ Langsam ließ sich Marthe auf den Stuhl vorm Tisch nieder. Sie hatte nicht mal ihren Mantel ausgezogen.
„Wahrscheinlich sind alle …“, Giovanni brach ab. „Dieses Anwerbeabkommen hat uns kein Glück gebracht.“
Er hatte das schwere Wort von damals noch ein letztes Mal ausgesprochen.
Marthe starrte auf den Küchenboden. Lange. Dann hob sie den Blick. „Das heißt, der Deutsche hat dein Leben gerettet?“
Ihr Mann nickte. „Sieht so aus. Er hat mir auch einen Job in seiner Firma angeboten, wenn ich ihm meine Idee überlasse.“
Er beeilte sich, zu mir zu kommen. Marthe sah ihm hinterher. Schnell zog er die Blaupause aus meinem Geheimfach. „Das hier!“
Er trug das Blatt zum Tisch.
„Was ist das?“, fragte Marthe.
„Das ist ein Plan für ein tragbares Radio. Gerhard meinte, damit könnten wir den Amerikanern und den Japanern Konkurrenz machen.“
So war es einzig Giovannis Erfindergeist und Überlebenswille zu verdanken, dass die Familie durchhielt und in Deutschland bleiben durfte. Nach und nach hatten sich die Wunden geschlossen und alle Tränen waren versiegt.

Die Museumstüren wurden geöffnet.
Bis heute trage ich, der grüne Koffer Verdi, die Träume dieser Familie in mir. Die Hoffnung und das Vertrauen einer gesamten Generation vereinen sich in mir. Und ich bin stolz, seit 70 Jahren diese Geschichte erzählen zu dürfen.

Anna Noah