Ich liebe Menschen. Wirklich. Aber die meisten von euch merken das nicht. Wissen es einfach nicht mehr. Früher war allgemein bekannt, dass ich euch vor Hexen und Ungemach schützte. Es beruhigte euch, dass unter meinem Schirm Waldfeen lebten, die euch wohlgesinnt waren. Heute bitten mich aber nur mehr wenige um einen Rat. Ein paar kommen noch, sammeln mein Harz, meine Blüten, meine Nadeln und machen daraus Salbe, Essenzen oder einen Badezusatz.
Oh, versteht mich nicht falsch. Ihr Menschen mögt mich. Sehr sogar. Das weiß ich. Und ich bin stolz darauf. Ihr mögt es, wenn ich mich verwandle. Das bringt Ordnung in euer Leben. Gibt euch ein Gefühl von Sicherheit und Beständigkeit. Mein erstes Kleid ist immer hellgrün. Dann kommt das dunkelgrüne und zur Krönung das goldene.
Und einige von euch wollen mir auch nahe sein. Sie suchen meine Kraft. Meine Stärke. Dann umarmen sie mich. Das ist mir manchmal ein bisschen peinlich, weil meine Rinde unterdessen doch so schuppig, rau und rissig geworden ist. Als ich jung war, na ja, da war sie wunderbar glatt und silbrig-grün. Aber das ist schon Hunderte von Jahren her.
Aber als sie kam, war das anders.
Sie berührte, streichelte, ertastete mich. Zog meinen Duft ein. Sie flüsterte mir zu. Dann legte sie ihr Ohr an meine Rinde und nahm Teil am lebhaften Treiben der Insekten. Noch nie hatte mich jemand von euch so sehr in meiner Ganzheit wahrgenommen. Ich zitterte, wünschte, sie würde ein Nest bauen in einer Astgabel, wie ein Eichhörnchen. Würde in einer meiner Höhlen wohnen, wie die Fledermaus. Aber sie ging weg.
Doch am nächsten Tag kam sie wieder. Und wieder. Und wieder. Immer mit ihrem Hund. Und ich lernte zu spüren, ob sie traurig oder glücklich war.
Darum erfassten meine Wurzeln an jenem Tag sofort, dass ihr Schritt schwerer war, und ich erkannte ihre Niedergeschlagenheit, schon bevor sie mich berührte und sagte: »Liebe Freundin, wir müssen nach Hause. Auch wenn ich dein Bild in mir trage, werde ich deine Nähe vermissen. Doch im Herbst bin ich wieder da.«
Sie umarmte mich lange und es war mir überhaupt nicht peinlich. Ich wusste, dass sie meine grobe, rissige Borke kannte und liebte.
Dieser Sommer war lang. Eine alte Lärche wie ich sollte in ihrem langen Leben gelernt haben, geduldig zu sein. Aber es war schwer. Und zum ersten Mal ärgerte ich mich darüber, dass ich so verwurzelt war. Ich konnte nur dastehen und warten.
Doch etwas hatte sich verändert in mir. Ich nahm jetzt die Umgebung ganz anders wahr. Merkte, wie sich die Düfte im Laufe eines Tages und der Wochen veränderten. Ich achtete auf jedes Geräusch. Und es gibt viel zu hören, das kann ich euch sagen. Das Zwitschern der Vögel, ihr Flügelgeflatter, das Geläute der Kuhglocken auf den Weiden, die Glocken des Kirchleins, Kinderlachen, Stimmen, Schritte …
Und vor allem lernte ich, die Stimmungen der Menschen zu lesen. Ich begann, mich für euch zu interessieren. Als ich merkte, wie wohltuend der Wald für euch ist, begann ich euch zu lieben. Ich weiss nicht, warum. Vielleicht, weil ich eure Verletzlichkeit erkannte. Das schaffte eine Verbindung. Irgendwie.
Der Wald beruhigt. Inspiriert. Erfrischt. Streit wird beigelegt. Und vor allem schluckt er die Einsamkeit. Das gibt es nicht hier.
Das erlebte ich jeden Tag. Und das half auch mir. Der Sommer ging vorüber und dann, als meine Nadeln goldgelb leuchteten, hörte und erkannte ich sie. Ihre Schritte. Leicht, behutsam. Dann das leise Bellen von Amira.
Ich denke, ich verlor vor Aufregung einige meiner goldenen Nadeln, obwohl es noch nicht ganz Zeit war.
Jetzt hatten wir einander wieder, stärkten einander, wie im Frühling. Tag für Tag. Bis sie wieder gehen mussten.
Doch sie kamen im Frühling wieder. Und im Herbst. Zwölf Jahre lang.
Und gestern, beim Abschied, stellte sie sich vor mich hin. Stand da. Breitbeinig. Schaute zu mir hoch, als ob sie mich sehen könnte, und sagte: »Ich werde meine Augen operieren lassen«. Ganz trocken sagte sie das.
Dann kam sie wieder näher, streichelte mich ganz lange. Ertastete die Risse und Furchen, als könnte sie so meine ganze Geschichte lesen.
»Wenn ich wiederkomme«, flüsterte sie, »wenn ich wiederkomme, kann ich dich vielleicht sehen. Aber ich weiß nicht, ob ich das will.«

Maria Rofe
Maria Rofe
1951 in der Schweiz geboren, verheiratet, zwei Kinder, unterrichtete ein Berufsleben lang in Australien und in der Schweiz. Schon als Kind hat sie Theaterstücke geschrieben für ihre Klasse und immer noch findet sie es befreiend, wenn sich die Gedanken beim Schreiben plötzlich selbständig machen und zu Geschichten werden.