Aurin tritt aus der Hütte und schiebt vorsichtig die knarrende Tür hinter sich zu. Mit bebenden Nasenflügeln wittert er in die kalte Luft und schaut sich um. Der Bach plätschert verschlafen zwischen hohem Gras, im Pferch regen sich erstaunt die Schafe. Es ist Nacht noch, das Funkeln der Sterne über ihm. Die dunkle Masse des Waldes vor ihm. Darüber ragt die schroffe Silhouette des Gebirges ins Firmament. Dorthin muss er.
Leise geht er über den Hof. Er darf sie nicht wecken, Sabia, seine hochschwangere Frau, die spät mit ermatteten Zügen eingeschlafen ist. Die Hände um den straff gespannten Leib gelegt und zusammengekrümmt wie das Kind in ihr. Sie leidet Schmerzen, sie ist blass und fast nicht mehr da. Seit zwei Monden nimmt sie kaum etwas zu sich außer einem Schluck Wasser. Heiler waren gekommen und hatten mit magischem Zauber, geflüsterten Beschwörungen und rituellen Tänzen versucht sie zu retten. Aber vergeblich.
Jetzt konnte nur noch eine Gabe helfen. Weit oben im Gebirge war ein Brunnen seit ewiger Zeit. Der sprudelnde Quell von Belenus‘ Abbild gefasst. Zwischen den Lippen der Gottheit floss das lebensspendende Nass hervor. Nur er konnte noch helfen. Wenn ihm eine Gabe dargeboten wurde und er sie annahm. Aurin war weit übers Joch und die schneebedeckten Gipfel in die südlichen Täler gegangen, um die Kostbarkeit zu finden, die Belenus verlangte. Ein tönernes Pferdchen weither, von kundigen Fingern geformt.
Er nimmt den Stock, der am Flechtzaun lehnt, geht über die Bohlen des Steges und betritt den Wald, der fast bis an die Einfriedung heranreicht. Er folgt dem gewohnten Weg zwischen den Stämmen der Bäume hindurch. Kaum ein heller Schimmer dringt vom Himmel bis auf den dunklen Boden des Waldes. Aber hier ist bekanntes Terrain und er orientiert sich am Glucksen des Wassers, den Gerüchen und Strömungen der Luft. Licht darf er nicht haben, das würde die Gottheit erzürnen. Es ist Teil des Rituals. Ohne Licht und ohne ein Wort zu sprechen muss er vor Sonnenaufgang am heiligen Ort sein, um die Gabe zu überbringen.
Der Weg wird schmaler. Hier endet die Gegend, die er vom Holz schlagen und Beeren sammeln kennt. Weiter hinauf war er nur bei der Jagd gekommen. Und einmal als Kind, über weite Strecken des Weges war er getragen worden. Der Bach verzweigt sich. Er solle stets dem stärksten Wasser folgen, hatte ihm Calum geraten. Nur so würde er die Quelle finden. Er vertraut seinem Instinkt, lauscht in die Nacht und entscheidet sich für den linken Bachlauf. Er muss dunkle Felskolosse umgehen, klettert über Wurzeln, hält sich an Zweigen uralter Tannen fest, schlittert über Geröll hinab, um den Bachlauf nicht zu verlieren. Weiter hinauf, nicht verweilen, nicht auf den Moospolstern, die zum Rasten einladen. Nicht trinken von dem Wasser, dass so köstlich rauscht und plätschert. Auch das verbietet das Ritual. Die Finsternis beginnt sich zu lichten. Wie stumme Wächter stehen die Lärchen, die ausgebreiteten Äste von Moos umwunden. Ganz oben am schneeigen Grat ist ein Hauch von Morgenröte. Er sieht es mit Freude und mit Erschrecken. Eilig folgt er der kaum sichtbaren Trittspur von Tieren.
Dort oben eine Senke im Steilhang. Dort sammeln sich die unterirdischen Fließe und treten als Quell aus dem Schoß der Erde hervor. Von Farn überwuchert der Jahrhunderte alte Quelltrog. Aurin schiebt die großen Blätter wie einen Vorhang zur Seite, sieht sein abgehetztes, verschwitztes Gesicht im klaren Wasser gespiegelt. Und darüber, kunstvoll in Fels gemeißelt – Belenus. Der Gott des Heilens. Das Licht nimmt zu, gleich wird der Sonnenball über die Felskante jenseits des Tales rollen. Wölkchen überm Horizont baden schon in ihrem Schein. Er darf keinen Augenblick verlieren, packt die Gabe aus der umgehängten Tasche. Über Belenus Antlitz ist ein schmales Gesims. Aurin geht zwei Schritte und stellt die Gabe vorsichtig auf das Felsband. Er hebt die Arme, reckt sie zum Himmel und bittet Belenus. „Lass sie leben und gesund werden alle beide, Mutter und Kind.“ Er schaut in das steinerne Antlitz, versucht ein Zeichen, eine Regung zu erkennen. In diesem Moment greifen die Strahlen der Sonnen über die Horizontlinie. Sie bringen Belenus zum Leuchten und auch Aurin.
Mit einem kleinen Geräusch kippt die Skulptur vom Sims und zerschellt auf dem Brunnenrand. Still sinken die Scherben auf den Grund des Beckens. Starr vor Erschrecken und Angst steht Aurin am Brunnenrand, hängt verstört die Tasche um die Schultern und stolpert talwärts. „Alles verloren, alles vorbei!“, hämmert es bei jedem Schritt in seinem Kopf. Sein Blick ist verhangen von Tränen. Er gleitet aus auf taufeuchtem Stein. Er stürzt und erhebt sich wieder. Arme und Beine sind von Brombeerranken zerkratzt, deren Dornen ihn nicht gehen lassen wollen. Er weiß den Weg nicht mehr, schon lange nicht. Er taumelt nur dem Ruf des Wassers folgend, dem Rieseln, Plätschern, Rinnen. Er folgt dem Weg, den die Wasser seit tausenden von Jahren nehmen, durch Erde, Stein und Sand haben sie ihren Weg gefunden. Und er findet seinen auch.
Hier im Wald hat der Bach kleine Mäander ausgebildet. In einer eigenen Formensprache zeichnet sein Lauf verschlungene Bögen und Schleifen. Aurin, wie von Sinnen, hat eine Biegung übersehen. Auf dem sandigen Uferstreifen ist er gefallen. Liegt lang ausgestreckt auf dem Bauch. Neben sich hört er ganz nah das frische Wasser vorbeifließen. „Jetzt ist sowieso alles egal.“, denkt er. Und dann trinkt er. Stützt sich mit einem Arm in den Sand, beugt sein Gesicht in die Flut, kühlt die heißen Wangen und trinkt. Atemschöpfend hält er inne, wischt sich mit dem Handrücken die Wassertropfen vom Kinn und schaut auf. Fünf Schritte von ihm entfernt trinkt ein Hirsch am anderen Ufer. Aurin sieht das Wasser auf dem rötlichen Fell perlen. Der Hirsch hebt den Kopf und schüttelt sein ausladendes Geweih. Lange schaut er Aurin aus dunklen Augen an. Dann legt er den Kopf in den Nacken und zieht weiter.
Die Nähe des großen Tieres hat Aurin nicht als Bedrohung empfunden. Sein Geruch jedoch hat ein Prickeln auf seiner Haut ausgelöst. Er nimmt den Stock und geht weiter talwärts. Wenn auch alles verloren ist, so muss er doch heim, die Tiere brauchen ihn. Fast scheu nähert er sich dem Waldrand. Da scheint eine Melodie durchs Rauschen des Wassers. Ein leises Summen. Aurin traut seinen Augen nicht. Sieht fassungslos zwischen den Stämmen hervor. Sabia steht auf der Schwelle, blass und sehr schmal. Unterm Umschlagtuch hält sie das Kind im Arm. Von ihren Lippen kommt das Lied.

Michael Kriegel