Am Nordende der großen Wiese am Appelfels stehen zusammengedrängt ein paar Jungbirken, die damals im Herbst gelbe Blätter trugen. Dort fließt der Bach eine Schleife, hat eine Halbinsel in die Erde gegraben. Die Weide dahinter gehört Kukkelkorn’s, bis in den Oktober bleiben die Kühe draußen, die liegen am Mittag im Schatten des Birkenwäldchens.
Der Birkenhain am Appelfels ist der siebte Stopp auf der großen NaTour, Trademark auf den Namen 2009 angemeldet, am häufigsten gebucht für Schulklassen auf Klassenfahrt in der nahegelegenen Jugendherberge: Erkunden Sie gemeinsam mit Erlebnispädagogen Sebastian Retter die Natur auf der großen NaTour. 3 Stunden, 10 km. Gemeinsam lernen wir Tier- und Pflanzenwelt kennen.
Hinter ihm floss der Bach seine Schleife. Sebastian starrte in die gelangweilten Gesichter. Er hatte die Ähnlichkeit vorher noch nie bemerkt, konnte sie jetzt nicht mehr wegdenken, wie die Jungs dort zusammenstanden, U16 Basketballteam aus Freiburg, er konnte sie anders nicht mehr ansehen: Innerhalb kürzester Zeit in die Länge geschossen, ungelenk standen sie beieinander, fettige Haare hingen in die pickeligen Gesichter. Sie schlenkerten die Arme. Traten von einem schmalgewachsenen Plattfuß auf den anderen. Trotz der weiten Hosen und dicken Pullover waren sie so dürr und hochgereckt, langgezogen aufgeschossen wie die Birkenstämmchen am Bach. Die reckten sich, wurden an der Spitze immer schmaler, wankten so staksig im Wind. Zwischen den gelben Blättern stand die weiße Rinde mit ihren dunklen Placken wie unreine Haut. Sie waren Birken, diese Jungs aus Freiburg. Sie waren Birken.
Die Gruppe wurde unruhig.
„Was gibt’s denn hier?“
Einer von ihnen schickte seine Stimme über das Feld, hatte seine Mütze oben auf den Kopf aufgesetzt, dass die Ohren, von der Kälte rot, darunter abstanden.
„Herr Sebastian Retter, was gibt’s denn hier?“
Sebastian riss sich aus seiner Starre, trat an ihn heran, überragte ihn noch um einen halben Kopf und bedeutete allen anderen mit einer Handbewegung näher zu kommen. Wiederwillig kamen sie, führten ihre gelangweilten Gesichter vor.
„Hier gibt es ein paar Pflanzen, die wollte ich euch gerne zeigen, die wachsen nur in sehr nassen, schlammigen Böden. Binsen zum Beispiel, da drüben“, er deutete Richtung Bach, „Windblüter, die brauchen keine Insekten um sich fortzupflanzen, gehören zu der Familie der Gräser, Gattung Juncus, wachsen nur in nassen Gebieten. Wenn ihr die seht, könnt ihr sicher sein, dass der Boden schlammig ist, daran könnt ihr erkennen, wo ihr mit den weißen Turnschuhen besser nicht langlauft, ha.“ Er lachte müde.
An der Kreuzung verabschiedete er sich, hatte keine letzten Worte. „Na gut“, sagte der begleitende Trainer, wandte sich mit seinen U16 Birken zum Herbergenhaus, daraus dampfte schon das Abendessen. Zu Hause auf dem Sofa fand Sebastian das Deckenlicht so hell, dass er nochmal aufstand und stattdessen die Stehlampe anstellte. Draußen war es dunkel. Auf dem Tisch stapelten sich Flyer für die NaTour; er wollte sie doppelt falten und dann in Cafés und im Tourismusbüro auslegen. Ihm tat das linke Knie weh, alte Sportverletzung, schwache Bänder, hatte der Arzt gesagt, zu schnell gewachsen. Er überlegte, ob er eine Pizza bestellen sollte. Zog sein Handy aus der Hosentasche, machte sich eine Notiz in den Kalender: Boris wegen Webseite anrufen. Auf die Webseite sollte Werbung für seine neueste NaTour, extra für Kinder im Grundschulalter. Extra für Kinder im Grundschulalter. Extra.
Er wählte die Festnetznummer.
„Sebastian“, nahm seine Mutter den Hörer ab, ihre Stimme geraut vom Alter.
„Mama? Ich wollte dich was fragen.“
„Geht’s dir gut?“
„Klar, ja klar, geht’s mir gut“, räusperte er sich. „Und dir“, wartete er, „Mama?“
„Auch, ja auch, natürlich, dein Vater hat heute das Auto in die Werkstatt gebracht.“
„Achso?“
„Für die Winterreifen.“
Ah. Das musste er auch erledigen, Winterreifen fürs Auto. Er wollte aufstehen und sich eine Notiz schreiben, aber er lag so schwer auf dem Sofa, dass er sich nicht rühren konnte.
„Mama, ich wollte dich was fragen: Weißt du noch, diese Geschichte von Oma Gerta? Wie ging die noch? So eine, da, wo der Baum ist, der sich in einen Menschen verwandelt?“
„Ach, das.“
„Wie ging die nochmal?“
„Das hat sie uns schon erzählt. Von ihrer Mutter, sagte sie, und deren auch. Das hat sie doch nur gemacht, um den Kindern Angst zu machen.“
Zur Beerdigung war seine Mutter in einem blauen Kleid gekommen, hatte nicht geweint. Sie war eine Erle, dachte Sebastian, meine Mutter ist eine Erle mit breiter Krone.
„Und?“ Fragte er.
„Was und?“
„Wie ging die noch?“
„Achso. Na die Frau um die’s ging, wie war das noch, also deine Ur-ur-ur-Oma oder wie auch immer, unserer Vorfahrin, die hat sich in einen Baum verliebt, ich glaube eine Eiche.“
„Eine Birke“, unterbrach sie Sebastian.
„Von mir aus, eine Birke. Sie hat sich also verliebt und die beiden konnten nicht zusammen sein. Da hat sie gebetet, zu irgendwelchen Göttern gebetet und gehofft, dass diese Birke, dass die sich eben in einen Menschen verwandeln würde.“
„Und es hat geklappt.“
„Du weißt die Geschichte doch noch.“
„Nein. Bitte.“
„Na gut, dann wurde die Birke eben zu einem Mann, deinem Ur-ur-ur-Opa oder wem auch immer und sie haben geheiratet und Kinder gekriegt.“
„Und deswegen sind wir alle so groß.“
„Und deswegen sind wir alle so groß. Weil der Ur-ur-ur-Opa eine Eiche war. Eine Birke war. Und sie mussten schwören, dass einer ihrer Nachfahren sich in einen Baum verwandelt. Als Tausch sozusagen.“
„Einer von uns.“
„Hat sie euch das gesagt?“
„Steffen und mir.“
„Ach Gott. Siehst du? Um den Kindern Angst zu machen.“
Sebastian dachte an die Jungs aus dem Basketballteam, die schmalgewachsenen Stämme, lang gestreckt waren sie, immer höher gewachsen. Die leere Wohnung war fast dunkel, nur die Stehlampe brannte. Auf dem Tisch lagen die Stapel mit Flyern. Er raffte sich auf, ging hin und faltete ein paar. Die Stimme der Mutter war ihm rau im Kopf. Er erinnerte sich an die Winterreifen und schrieb sich eine Notiz. Warf einen Blick in den Kühlschrank, wollte nichts davon essen. Trank stattdessen ein Glas Leitungswasser, schmeckte Kalk. Er kam sich beengt vor in der kleinen Küche, stand eine Weile still, hob die Hand und berührte die Decke. Drückte dagegen. Ihm war die Luft trocken in der Lunge.
Er zog seine Jacke und die Schuhe an, stieß das Fenster auf und biss in die kalte Abendluft. Musste sich tief ducken um hindurch zu passen, stieg über die Feuerleiter runter in den Gemeinschaftsgarten. Sein Fenster blieb offen. In einem hell beleuchteten Wohnzimmer saß eine Familie beim Abendessen. Eine Etage tiefer flimmerte bläulich der Fernseher. Ihm stand die Dunkelheit. Durchs Gartentor trat er auf die Straße, dahinter war die große Wiese und der Appelfels. Er wandte sich nach Norden, lief durch das Gras, das war feucht, er zog die Schuhe aus. Hier war Wind in der Nacht. Er dachte an die Sonne, die morgen früh aufgehen würde. Wankte langsam. Legte seine Hand auf weiß befleckte Rinde. Dort, zwischen den Jungbirken, die damals im Herbst gelbe Blätter trugen, schlug er Wurzeln.

Maja Mick