Sie redet ununterbrochen. Sie schimpft vor sich hin. Sie sudert. Sie stichelt. Sie grantlt. Und weil sie keine besonders nette Person ist, kommentiert sie alles, was sie sieht. Ein Zuckergoscherl ist sie nicht, die Stumme Ida. Eine Zunge hat die, scharf wie ein Schwert, sagen die anderen hinter ihrem Rücken. Oder besser, sie würden es sagen, wenn sie hören könnten, was die Stumme Ida sagt. Das können sie aber nicht, weil ihre bissigen Tiraden lautlose Selbstgespräche sind. Ziemlich unsympathisch. Logisch, dass einem das gleich einfällt, wenn man die grauslichen Sachen über den Charakter von der Stummen Ida weiß. Aber irgendwo, wo genau weiß man nicht, hat sie doch ein gutes Herz. Weil die Stumme Ida in echt gar nicht stumm ist. Sie redet nur deshalb nichts, weil sie weiß, dass das nicht besonders gut fürs Klima wär. Jetzt egal für welches. Weil im Großen und Ganzen gesehen wirken Schlechtestimmungverbreiter global negativ. Esoterisch gesehen halt. So universell.
Man fragt sich also, woher das kommt, dass die Stumme Ida so eine geworden ist, und jetzt könnte ich natürlich von ihrer Kindheit erzählen und darüber, was da schief gelaufen ist. Tu ich aber nicht. Weil man das schon alles gehört hat irgendwo anders, über irgendjemanden. Im schlechtesten Fall muss man dann an seine eigene Vergangenheit denken und wird melancholisch. Das also auch noch, das wär zu viel. Traurige Erzählungen machen die Seele immer so. So weich. Und stell Dir vor, da kommt dann jemand daher, sieht das, wittert die Chance, packt Dich in einem schwachen Moment – Du also ganz sanft und aufgeweicht – und dann bist Du dran und verloren. Und genau das ist der Stummen Ida passiert.
Die Stumme Ida ist da dreißig und hat schon seit knapp zwanzig Jahren nichts mehr gesagt. Also laut. Sie arbeitet als Porträtphotographin in der Stadt. Da muss man weniger reden, als man meint. Und auch wenn sie sich ungeniert über die physiognomischen Schwächen ihrer Modelle lustig macht, sie photographiert sie trotzdem immer ein bisschen schöner, als sie in Wirklichkeit sind. Nur so halt. Freunde hat sie keine und also auch keinerlei Druck, was ihre Abende, ihre Wochenenden, Weihnachten, Ostern und ihren eigenen Geburtstag betrifft. Und weil der Mensch nicht nur blöd reden kann den ganzen Tag, sondern auch etwas fürs Gemüt braucht, verbringt die Stumme Ida ihre freie Zeit in der Natur und photographiert. Am Tag ihrer aufgeweichten Seele fährt sie mit ihrem Auto zu dem Berg, auf den sie mit ihrer Kamera hinaufwill. Aber sie muss stehenbleiben, mitten auf der Straße. Weil dort kniet ein kleiner Bub und hat eine halbtotgefahrene Katze im Arm. Gar nichts und niemanden sieht er. Er weint und wiegt sie und will sie mit seinen flehenden Worten zum Dableiben bewegen. Aber sie geht trotzdem. Und eine große Traurigkeit legt sich über die Stumme Ida. Sie nimmt den Buben bei der Hand, der die Katze nicht loslassen mag, und führt ihn von der Straße weg. Er bemerkt die Stumme Ida gar nicht. Streichelt die Katze.
Die Ida setzt sich in ihr Auto und fährt weiter. Sie schaltet den Scheibenwischer ein, wegen der glasigen Augen. Sie parkt. Sie geht zur Seilbahnstation. Zum Schalter. Da wartet schon der Hans auf der anderen Seite der Scheibe und schaut sie an. Wie wenn sie ein Wunder wär schaut er sie an. Dass er schon sein Leben lang auf die Ida gewartet hat, das hat er nicht gewusst, eh klar, das weiß man ja selber nicht. Die Stumme Ida steht also immer noch beim Schalter und ist mit ihren Gedanken ganz wo anders. Der Hans räuspert sich ein bisschen. Da bemerkt die Ida endlich den Hans. „Eine Karte, bitte“. Sie hat gar nicht gemerkt, dass sie das laut gesagt hat. Was so ein bisschen Traurigkeit alles verändern kann. Und komisch, dass dann aus der Traurigkeit etwas so Schönes entstehen kann. Denn in die aufgeweichte Seele der Stummen Ida ist der Hans eingedrungen wie ein Pfidschipfeil, den man vorher in glitzernde Wärme getaucht hat. An diesem Tag ist sie noch allein hinauf auf den Berg, mit der Seilbahn. Aber der Hans, der hat sich dann bald die meisten Karten selber verkauft und die Ida immer eingeladen auf die Fahrt hinauf. Alle, die die Ida und den Hans da oben gemeinsam sehen, schauen oft sehnsüchtig in sich hinein und seufzen.