Der Zug spielt eine Tonleiter auf den Schienen. Er sitzt am Fenster, auf dem Sitz neben ihm thront stolz sein Rucksack, zu schwer, um von einer Person allein auf die Gepäckablage gehoben zu werden. Die Kopfhörer sind darin vergraben, irgendwo, weil er gestern alles nur schnell, nur irgendwie hineingeworfen hat. Heute wird es keine Musik für ihn geben, wenn er nicht will, dass der ganze Wagen seine dreckige Unterwäsche sieht.

Der Bahnhof bleibt hinter ihm zurück und mit ihm die Stadt, die einmal sein Zuhause war. Weil sonst nichts zu tun ist, greift er nach der Bahnzeitschrift, die nie jemand liest, auch er nicht, aber was soll er denn sonst tun? Die Fahrt wird lang sein.

Eine Frau setzt sich ihm gegenüber hin. Sie ist so ganz anders als er, das sieht er selbst bei einem flüchtigen Blick über den Rand seiner Zeitung hinweg. Alles an ihr ist geordnet: ihre Frisur, ihr sorgfältig drapierter Schal, ihr Lächeln. Er hofft, irgendwann einmal so zu sein. Sein Leben ist immer im Chaos: Zwischen Aufbrüchen, Umbrüchen und Eventualitäten kommt er nie zur Ruhe.

Seine Rückkehr nach Hause hatte er sich glorreich vorgestellt. Er war überall gewesen – Australien, Thailand, Sambia, Mexiko – und hatte sich vorgestellt, dass alle ihn feiern würden, wenn er zurückkommt, dass sie ihn ausfragen und bewundern würden und dass er immer noch dazugehören könnte.

Gefeiert haben sie ihn auch, aber er hat meist nur am Rand gestanden und ihnen dabei zugeschaut. Irgendwann hat ihn der Sog doch mitgerissen – Suff, unverbindliche Küsse, unverbindlicher Sex, am nächsten Morgen viel zu spät auf, am nächsten Abend von vorn. Früher hatte er das genossen. Heute sehnt er sich danach, seine Haare einmal ordentlich gekämmt zu sehen.

Deshalb der Neuanfang, dem der Zug entgegenfährt – zurück in Deutschland, aber am anderen Ende, ganz im Osten statt tief im Westen, und so durchquert er das Land, das er von allen Orten seines Lebens am wenigsten kennt. Es ist eine weitere Reise mit nichts als dem, was der Rucksack enthält, der ihn durch die halbe Welt begleitet hat. Ohne eine Antwort darauf, was ihn beim Ankommen erwartet. Ob die ihm gegenüber sitzende Frau dieses Gefühl verstehen kann?

Sie liest, doch er sieht auch ihren Blick immer wieder über die Kante ihres Buches zu ihm wandern. Zu zweit blockieren sie einen Vierersitz, doch der Zug ist nicht voll genug, dass jemand sich beschweren würde.

Nach einer Stunde des Schweigens hält er es nicht mehr aus. Das Magazin hat er durchgelesen; geblieben ist ihm eine fahle Langeweile, ein dumpfes Gefühl, das sich tief in ihm einnistet. Unruhig bewegt er sich im Sitz, schaut aus dem Fenster, schaut in den Gang, schaut zu der Frau.

»Haben Sie nichts zu lesen dabei?«

Dass sie das Schweigen bricht, hatte er nicht erwartet.

Zuvor schien es, als hätte sie sich zwischen den Zeilen des Buches verloren, aber nun mustert sie ihn wieder, ordentliche Augen, klarsichtiger, direkter Blick.

»Ich musste schnell packen«, nuschelt er, während sie ihn freundlich anlächelt und ihr Buch sinken lässt.

»Wohin fahren Sie?«

Und aus irgendeinem Grund erzählt er – erzählt von seinem Umzug, der heute Hals über Kopf passiert, ohne Wohnung, die am anderen Ende wartet; von der Weltreise, von der er sich Antworten versprochen hatte und doch nur mit weiteren Fragen zurückgekommen war; von seiner Rückkehr und der Erkenntnis, wie wenig ihm der Ort, den er einmal Zuhause nannte, immer schon geboten hatte. Es bricht aus ihm heraus – die verbotenen Worte, die er den Zurückgebliebenen nicht sagen konnte. Die Sehnsucht nach Ordnung, nach Struktur, nach gekämmtem Haar.

Die Frau lächelt.

»Die Locken stehen Ihnen eigentlich ziemlich gut.«

Und dann erzählt sie: Von ihrem durchgeplanten Umzug, den sie ein halbes Jahr lang vorbereitet hat; von der neuen Wohnung, der sie nun entgegenfährt, in der die Möbel schon darauf warten, mit ihren Erinnerungen gefüllt zu werden; von einem geradlinigen Leben ohne Überraschungen, ohne Kurven und Schatten. Und es bricht aus ihr heraus – die verbotenen Worte, die sie niemandem sonst sagen kann. Die Sehnsucht nach Chaos, nach Unerwartetem, nach vergrabenen Kopfhörern.

Als sie ankommen, legt sich die Dämmerung sanft über ihren Neubeginn. Sie stehen am Bahnsteig und er traut sich zu fragen, ob er bei ihr übernachten darf. Er bietet an, ihr beim Kistenauspacken zu helfen, wenn am nächsten Vormittag der Umzugswagen vor ihrer Tür stehen wird, und ein Abendessen für sie zu kochen. Sie zögert. Sie schüttelt den Kopf, nickt, schüttelt den Kopf. Eine Strähne löst sich aus ihrer Frisur, als sie nervös mit der Hand hindurchfährt.

Schließlich stimmt sie zu – nur für eine Nacht, auf der Couch. Sie kaufen ein und er wird Paella für sie kochen. Es ist ein erster Schritt, Richtung Freundschaft, Richtung Ankommen, Richtung Zukunft.

Katharina Stein
© David McIntyre

Katharina Stein

Schreibt Kurzgeschichten, Lyrik und alles, was dazwischen liegt. Sie hat das Literaturnetzwerk #BerlinAuthors mitbegründet, wo sie Anthologien herausgibt und Lesungen, Workshops und andere Events organisiert. Neben Texten in diversen Anthologien und Literaturmagazinen sind von ihr ein Band Kurzprosa und eine Erzählung erschienen. Außerdem arbeitet sie als freiberufliche Lektorin.