„Gesundheit und Geistesruhe, diese beiden höchsten Güter der Welt, wünscht Ihnen Ihr Freund Arthur Schopenhauer.“
Das Wetter war unbeständig. Ihre Gemütslage auch. Die Gedanken oszillierten zwischen positiv und negativ, gerichtet und ungerichtet, sogar zwischen oberflächlich und tief. Externe Reize drängten sich zudem beinahe ungefiltert ins Bewusstsein. Die Nerven lagen blank und verstärkten die Schmerzen, die in den letzten Wochen immer spürbarer wurden. Gefühlte Gesundheit und Geistesruhe lagen in weiter Ferne.
Eine Woche freie Zeit sollte rasch zu einer deutlichen Veränderung führen. Diesen freundlichen Rat im Gepäck, den Partner fest an der Hand, wollten die beiden mit der zweitältesten Seilbahn von Lana aus in eine auf 1500 Meter Höhe gelegene grandiose Aussicht gelangen.
Ein derartiger Höhenwechsel verhalf ihnen auch in der Heimat häufig zu einem Perspektivenwechsel. Dort war das Transportmittel zu einer neuen, kreativen Ordnung der Gedanken ein Aufzug, der sie nach circa 300 Metern zu einer Aussichtsplattform über der Stadt beförderte.
Der Regen im Meraner Land hielt sich zurück, bis sie die Gondel erreichten. Dann wechselten die Schauer den Aggregatzustand und ihre Hoffnung verdunstete. Ein dichter Nebel nahm ihnen auf halber Strecke die Sicht.
Er musste sofort an den höchsten walisischen Berg, den Snowdon, denken, wo schon die Postkarten die Rache der Natur an den straff organisierten touristischen Wünschen nach besonderer Aussicht karikierten.
Das vigilius begrüßte sie freundlich mit dem Hinweis auf eine baldige Wetteränderung. Aus dem Zimmer mit Aussicht wurde ein Raum der Kontemplation. Allein mit ihren Gedanken.
Auch am nächsten Morgen gab ihnen der Nebel die Möglichkeit, sich ganz dem Hotel zu widmen, denn die Sichtweite lag nur, innerhalb des großzügigen Gebäudes, bei 20 Meter.
Klar, hier war der Natur ein Platz geraubt worden. Aber die Verantwortlichen hatten die natürlichen Materialien einfach neu angeordnet und ihnen eine neue Bedeutung gegeben. Eine respektvolle, humane Haltung gegenüber der Natur.
Die Menschen sollten das, was ihnen geschenkt wurde, in verbesserter Form wieder hergeben. Dieses Prinzip hatten die beiden zuletzt in der maniotischen Bauweise in Vathia auf dem Peloponnes bewundern können.
Hier im vigilius konnte man sich bereits auf das Lärchenholz des noch unsichtbaren Vigiljochs freuen. Die Enttäuschung über die vernebelte Sicht wich der Konzentration. Die ersten konträren Gedanken wandelten sich in wertvolle Einsichten.
Es kommt nämlich immer darauf an, mit welcher Stimmung man einen Ort betritt, damit er seine Wirkung entfalten kann. Dabei schenken uns starke Emotionen viele Erinnerungen.
Der Nebel am Vigiljoch lichtete sich bald wie ein Theatervorhang und in den frühen Morgenstunden des folgenden Tages boten die einzelnen Wolken ein unvergessliches Naturschauspiel. Sie verhüllten den Blick auf das Tal und die beeindruckenden Berge nur unvollständig. Ganz vorsichtig, fürsorglich wie eine Mutter, gaben sie allmählich die Sicht frei. Sie ließen dem Paar Zeit, diese einzelnen starken Reize zu verarbeiten. Erst wenn genügend Zeit verstrichen war, lösten sich die Wolken auf und überließen die beiden dem Gesamtbild.
Der Nebel hatte für sie die nötige Filterfunktion übernommen, die ihnen zuhause abhanden gekommen war. Wie durch ein Gitter wurden ihre Gedanken jetzt nicht mehr zerstreut. Jeder neue Reiz löste sich in ihrem Gedächtnis und wurde sofort beantwortet. Völlige Geistesruhe.
Der Standort, das vigilius, hätte für diese Einsicht nicht besser gewählt werden können. Und der Wunsch wuchs, dieses Gefühl zu teilen, irgendjemandem etwas zurückzugeben.