Der Haken saß schlecht, er hätte es am Klang erkennen müssen; Erste Bröckchen rieselten ihm bereits ins Gesicht. Zweihundert Meter unter ihm der Gletscher, von Haifischmäulern durchzogen, und er alleine in der Wand. Es war also wieder einmal so weit. Jeder andere hätte in diesem Moment die wichtigsten Stationen seines Lebens vorbeiziehen gesehen, im Zeitraffer, bis zum finalen Filmriss.

 

Nicht so Sixtus Achtlos. Er kannte die Nummer, kein Grund zur Panik. Beim ersten Mal war es das blanke Entsetzen gewesen, das heranrasende Stahlungetüm, die klemmende Fahrertür, ein letzter Ruck, der Fall, abrollen, drei Monate Liegegips, dann war alles wieder im Lot. Sixtus hielt nichts von Traumatherapie, reine Zeitverschwendung, wie er am Stammtisch zu sagen pflegte.

Das war der Anfang einer Reihe merkwürdiger Begebenheiten gewesen. Es dauerte nämlich nicht lange, da fand er sich in einer Seilbahngondel wieder, deren Zugseil aus den Rollen gesprungen war, was zur Folge hatte, dass die Kabine in rasender Fahrt auf den nächsten Mast zu schlingerte, hinter dem es fast senkrecht in die Tiefe ging. Der Sicherheitsmechanis­mus griff im letzten Augenblick, keine zehn Meter vor dem massiven Stahlgerüst kam die Gondel zum Stillstand, er hatte mit dem Leben abgeschlossen. Ungezählte Alpträume später beschloss er, das Ganze als Zufall abzutun und seinen Geschäften nachzugehen.

 Seilbahnen mied er fortan, bei den Bahnübergängen war das schon schwieriger, aber als er die kalte Mündung in seinem Rücken spürte, wusste er, dass er sich all die Umwege hätte sparen können. Der Schuss fiel just in dem Moment, als er sich zu seiner Aktentasche hinunterbückte, um das Kuvert mit den eben behobenen Geldscheinen hervorzuholen. Glas splitterte, plötzlich war überall Blut, die Kunden am Nebenschalter schrien auf, dann war es vorbei. Der Mann vom Sicherheitspersonal war schneller gewesen, und zum dritten Mal in diesem Jahr war er Gevatter Tod eben noch von der Schippe gesprungen.

Der Haken über ihm hatte sich ein wenig talwärts geneigt, das Scheren von Metall am Fels war nicht zu überhören gewesen. Ach was, dachte Sixtus, er wird schon halten. Und wenn alle Stricke reißen – das Wortspiel amüsierte ihn -, ist da immer noch diese Leiste, an der ich mich festhalten kann. Nach jenen ominösen Zwischenfällen, die ihm gerade durch den Kopf gingen, hatte er begonnen, den Widrigkeiten des Lebens mit Gleichmut zu begegnen, während seine Freunde zu munkeln begannen. So viel Glück in einem Leben konnte doch keiner haben! „Die dümmsten Bauern ernten die größten Kartoffeln“, pflegte er dann verlegen zu kichern.

Die Erinnerung daran ließ ihn jetzt noch schmunzeln, drei Jahre danach in dieser Wand. Woher diese Gelassenheit? Es war nach dem vierten Mal gewesen, er kletterte gerade als einziger Überlebender aus dem rauchenden Wrack einer Boeing hoch in den Anden, als ihn der Gedanke an seine Katze überfiel. Fünf gezählte Male war sie aus dem Fenster seines Appartements im dritten Stock gefallen, und fünf Mal war sie unversehrt auf den Pfoten gelandet. Der Mythos, schoss es ihm damals durch den Kopf, der Mythos von der Katze mit den sieben Leben! Mein Sternzeichen ist die Katze. Auf Borneo zumindest, meiner zweiten Heimat, wo die Menschen seit Generationen von Orenga, der Urkatze, berichten, um sich die ewige Wiederkehr des Lebens in der feindlichen Natur zu erklären. Orenga war mit sieben Schwänzen zur Welt gekommen, und jedes Mal, wenn sie starb, kehrte sie mit einem Schwanz weniger zurück, als wäre nichts geschehen. Und als sie den letzten Schwanz verloren hatte, lebte sie weiter in Ewigkeit, was nebenbei auch erklärte, warum es auf Borneo so viele Katzen ohne Schwänze gab. Drei Leben habe ich also noch, dachte Sixtus – was soll mir schon geschehen? Nichts hatte ihn fortan aus der Ruhe gebracht, und auch jetzt, knapp unter dem knirschenden Haken, überwog seine Neugier – die Neugier des Wissenden, der keinen Grund sah einzugreifen.

Die Sache mit der dorischen Säule hatte ihn in seiner Zuversicht bestärkt. Ihr Kapitell zerbarst just an jener Stelle, an der er Sekunden zuvor seine gelockerten Schnürsenkel neu gebunden hatte. Nein, nicht auf diese Weise; er würde sein Leben dereinst in den Armen einer jungen Geliebten beschließen, das stand für ihn fest, und er hatte es sich bereits in den lebhaftesten Farben ausgemalt.

Weniger spektakulär verlief Monate später, auf einer ausgedehnten Indienreise, seine Begegnung mit einer Kettenviper, vor deren tödlichem Biss ihn die Angestellten seines Hotels in Lalitpur eindringlich gewarnt hatten. Es war bei einem seiner abendlichen Spaziergänge, die er sich trotz einer jüngst erworbenen Fußverletzung nicht nehmen ließ, als ein Zischen im dichten Gras seine Aufmerksamkeit erregte. Und da hatte die Schlange, unsichtbar im Dämmerlicht, auch schon zugebissen und ihr Gift verspritzt. Das wäre es wohl gewesen, aber nicht für ihn. Er hatte ja seinen Gehgips – und seine Katzenleben.

Es folgte eine Episode, die ihm so peinlich war, dass er sie am liebsten von der Liste seiner wundersamen Errettungen gestrichen hätte. Es war in Japan gewesen, als sich der gehörnte Ehemann seiner vermeintlich ledigen Gastgeberin daran machte, nach seiner Gesponsin auch ihn von Haupt und Gliedern zu befreien – nach altem Brauch mit dem geheiligten Schwert seines Urahnen, eines legendären Samurai. Ein kühner Sprung aus dem Fenster hatte ihn damals gerettet. In seiner Erinnerung überwog allerdings die Schmach, sich sahnebekleckert aus einer monumentalen Hochzeitstorte hochrappeln zu müssen, noch dazu auf der Festtafel des ersten Restaurants am Platz, durch dessen hauchdünne Decke er soeben gebrochen war. An die vierzig japanische Gäste kicherten höflich hinter vorgehaltener Hand, während er wie ein begossener Pudel das Weite suchte. Grässlicher Gedanke, bei dem sich Sixtus dermaßen schüttelte, dass sich der schlecht geschlagene Haken endgültig aus der Verankerung löste.

„Und wie standen Sie zu ihm, wenn ich fragen darf?“ Die Trauergäste hatten sich zerstreut, nur eine ältere Dame war geblieben, an die der Pfarrer sich nun wandte. „Ich war seine Volksschullehrerin, vor langer Zeit. Wissen Sie, er war ein aufgewecktes Bürschchen. Ein wenig abergläubisch vielleicht, hat wohl zu viele von den alten Geschichten in unserer Bücherei gelesen, aber sonst – ein kluger Junge“, sie putzte sich die Nase. „Nur mit dem Zählen, da hat er sich von Anfang an schwergetan…“.

 

Edwin Radnitzky