Exposition.
»Ich glaube, wir haben ein Verständigungsproblem. Der Harald, der ist Künstler. Künstler! Den können Sie nicht so einfach in eine Ecke schieben und einen Baum spielen lassen, der ist für den Vordergrund gemacht. Bühnenmitte! Der hat Talent. Der hat schon Molière gespielt. Molière! Wir schicken den doch nicht zum Schauspielunterricht, damit er dann eine Buche wird. Da müsste er ja keinen Unterricht für nehmen, um im Bühnenbild rumzustehen und mit den Ästen zu wackeln. Der Schauspiellehrer sagt nämlich auch, der Harald, der tritt nicht einfach nur auf, der erscheint, und wenn er dann so eine Buche im Hintergrund ist, wie soll er denn dann erscheinen? Das merkt doch keiner! Dann tritt er nur auf. Der müsste der Zeus sein. Oder der Herakles. Wenigstens aber der Jason. Das Mythische, das liegt ihm nämlich.«
Der so besungene Harald steht zwei Meter neben seiner Mutter und stochert mit einem Finger gedankenverloren in seinem rechten Ohr herum. Einen Moment lang überlege ich, meiner Gesprächspartnerin zu erklären, dass der einzige Mythos, den ich hier sehe, Haralds Motivation ist, dann aber fürchte ich, sie würde mir erklären, ihr Sprössling improvisiere gerade den Odysseus kurz nach dessen Begegnung mit den Sirenen, wie er sich heroisch das Wachs aus den Ohren entfernt, und ich will nicht auch noch die Details dieser Story diskutieren, also sage ich stattdessen: »Wir haben schon einen Zeus, einen Herakles und einen Jason ausgesucht. Und Harald hat bei keiner der Proben zu verstehen gegeben, dass er eine dieser Rollen gerne gespielt hätte.« Haralds Mutter schaut hinüber zu ihrem Sohn, der augenblicklich weder erscheint noch auf irgendeine Art und Weise in diesem Gespräch auftreten zu wollen gedenkt. »Ein ganz eklatantes Missverständnis der kreativen Seele ist das«, fährt sie schneller fort als die Argo die Argonauten zum goldenen Vlies getragen hat, »er wollte natürlich von Ihnen erkannt werden. Und was machen Sie stattdessen? Sie machen ihn zur Buche.« Ich verzichte auf eine Gegendarstellung, denn inhaltlich hat sie vollkommen recht: Es war meine Entscheidung, aus dem Jungen einen Baum zu machen. »Die Zweitbesetzung kann ich Ihnen noch anbieten«, wage ich den Versuch einer Aussöhnung, mache mir jedoch keine Sorgen, dass Haralds Mutter das Angebot annehmen könnte – er hat immerhin schon Molière gespielt. Molière!
Wendepunkt.
Gegen Mittag des nächsten Tages finde ich mich im Zimmer des Direktors wieder. »Ich sage es Ihnen frei heraus«, beginnt er unser Gespräch, »Frau Z. hat sich über Sie beschwert und es ist mir immer lieber, wenn Frau Z. nichts hat, über das sie sich beschweren kann.« Er lässt offen, was der Grund für dieses Bedürfnis ist. »Sie werden doch sicher noch eine Rolle in ihrem mythologischen Medley finden, die der Junge spielen kann – das wird doch nicht so schwierig sein. Die Mutter sagt, er habe Talent.« Ich überlege, Molière zu erwähnen, aber jetzt spöttisch zu werden, hilft uns nicht weiter. »Um ehrlich zu sein, war Harald recht hölzern und schien sich nicht wohl auf der Bühne zu fühlen, daher glaube ich, dass meine Entscheidung im Sinne des Schülers war«, beziehe ich stattdessen Stellung. Alle Teilnehmer des Kurses müssen verpflichtend an der Aufführung teilnehmen, um zu bestehen. Im Wald zu landen, war für die meisten von ihnen eine Erleichterung. Doch davon möchte der Direktor nichts hören. Der Direktor möchte seine Ruhe. »Dann lassen Sie ihn doch den Ikarus spielen. Der stürzt ja ohnehin schon im ersten Akt ab. Und einen Akt – den wird er wohl noch hinkriegen.«
Katastrophe.
»Doch horchet, da kommt Ikarus!«, verkündet Dädalus und von rechts betritt sein Sohn, schwer behangen mit einer federbesetzten Flügelkonstruktion, die Bühne. Ich sehe, wie Frau Z. in der ersten Reihe ihr Programmheft fester umklammert. Vermutlich stockt ihr voller Stolz der Atem. Harald kommt nur langsam von der Stelle. Er hebt seine Füße kaum an und schlurft der Bühnenmitte entgegen. Sein eingebildeter Kranker muss wahrlich fulminant gewesen sein. »Oh Vater-«, beginnt er seinen Monolog, »Vater, höret mich- – -.« Aber wir hören nichts mehr. Schweigend steht Ikarus vor seinem Publikum, setzt halbherzig noch einmal an, stockt, versucht, seine Hand zu heben und einen Finger Richtung Ohr zu manövrieren, gibt es jedoch wieder auf, als seine Federn ihm den Weg versperren. Ausdruckslos starrend vergehen einige weitere Sekunden, dann wandern Haralds Füße mit einem gleichbleibend schlurfenden Gang rückwärts dem Bühnenhintergrund entgegen, wo ihn die in einer Reihe nebeneinander aufgestellten Bäume bereitwillig in ihrer Mitte aufnehmen. Mit dem fortwährenden Auf- und Zuklappen seiner Lider gleicht er nun einer trägen, desorientierten Eule. Der Saal schweigt. Da beginnt plötzlich eine der Buchen, ihre Äste zu heben. »Huu huu«, imitiert sie den Ruf eines Käuzchens. Immer wieder. »Huu huu, huu huu.« Nach und nach fallen die anderen Bäume in das Konzert ein, schließlich auch der gescheiterte Himmelsstürmer in ihrer Mitte. »Huu huu«, krächzt Harald voller Inbrunst, als habe er endlich seine wahrhaftigste Rolle gefunden, und wackelt mit den Flügeln. »Huu huu«, schallt es ihm bald aus dem Zuschauerraum entgegen. Zunächst nur vereinzelt, dann erfüllt der Geist der Geste immer mehr der Gäste. Irgendwann ist das gesamte Publikum auf den Beinen und kräht, mitten im ersten Akt. Sogar unser Direktor. Über die vielen Köpfe hinweg kann ich nicht sehen, ob auch Frau Z. sich erhoben hat, aber ich hoffe, sie steht irgendwo dort vorne unter uns. Es ist doch immer am besten, sofort wieder aufzustehen, wenn man sich gerade an der Sonne verglüht hat.

Kerstin Meixner