In der Dunkelheit noch – eine Ahnung von Morgen im Grauviolett des Ostens – geht sie aus dem Haus, dem Berghang zu. Das erste Stück ist im Dunkeln gut zu gehen, ein breiter Schotterweg, der sich in weiten Kurven neben dem Pistenhang hochzieht und ihn quert. Sie ist froh, dass sie diese Hässlichkeit nicht im Tageslicht sehen muss und bald hinter sich lassen kann. Drei schwarze Pferdesilhouetten sieht sie oben vor der dunkelblauen Folie der Nacht. Wie in einem Zeitlupenballett drehen sie alle drei den Kopf zu ihr hin, zu der frühen Wanderin.
Die Nacht verabschiedet sich in aller Stille, ohne viel Aufhebens zu machen von dem gewaltigen Geschehen, dass das Licht unaufhaltsam ihren Platz einnehmen wird.
Zwielicht, dieser Zustand zwischen schon und noch nicht, zeichnet die Zirben schärfer. Der Weg dreht sich endlich weg von der Piste, weg von den Masten und Drähten des Lifts. Ein Steig ist er geworden, zieht sich durch Felsbrocken, Heidelbeerbüsche und nasse Gräser im Zickzack den Hang hinauf. Der Lift bleibt zurück im dunklen Unten.
Das Graulicht ist stark genug, so dass sie die schwarz lackierten Echsen sieht, die nachtstarr mitten auf dem Weg verharren. Sie begrüßt sie mit einer tiefen Verbeugung, ihr Gesicht senkt sich zu den kleinen Drachen. Unendlich langsam heben sie Kopf oder Kralle.
Begleitung? Sie braucht sie nicht. Ja, sie verträgt sie nicht. Am liebsten geht sie allein. Angst kennt sie eigentlich nicht bei ihren Alleingängen durch die Welt. Nur vor denen, die ihr, auf welche Weise auch immer, nahe rücken wollen. Schnell ist es ein »zu nahe«. Aber heute – eine unsichtbare und doch spürbare Begleitung lässt sie unsicher den Kopf drehen, sogar hin und wieder stehenbleiben, um zu horchen und die Räume zwischen den Bäumen und Büschen abzusuchen nach diesem Wesen, das ihr folgt. Sie sucht ein Aufblitzen von Augen, wartet darauf, ein deutliches Rascheln, Knacken, Atmen zu hören, um dieser geheimen Anwesenheit gewiss zu werden und sie verorten zu können. Es bleibt verborgen, und sie wird nicht frei von ängstlicher Vorsicht.
Nur noch vereinzelt ragen zerklüftete Baumriesen hoch, der Himmel über ihr hat das Mattblau der Frühe angenommen, im Osten ist der Lichtstreifen fast schon festlich gerötet. Die Welt regt sich, Vögel heben an zu singen. Ihr Begleiter, vielleicht nur ein Phantom der Dämmerung, scheint zurückzubleiben.
Wie frei wird ihr Schritt! Die Vorsicht aus der Zeit der Dunkelheit und des Zwielichts und des vorsichtigen Spähens ist vorbei. Ein entschiedenes Schreiten dem Sonnenaufgang entgegen ist es auf dieser letzten Strecke, auf dem Grat zum Gipfel. Sein massives Kreuz, die diagonal gespannten Drähte, die es halten, bilden eine schwarze Lineatur vor dem Morgenrot.
Sie ist oben. Sie nimmt ihren Platz ein, den Morgenthron, der jeweils dem gebührt, der die Königin Sonne auf dem Gipfel begrüßt. Heute ist sie es. Allein. Die Sonne naht. Noch ist ihre konkrete Kreisform hinter den fernen Bergketten verborgen, aber der goldrot strahlende Schein kündigt sie an. Kühl ist es, windstill.
Da ziehen sich ihre Schultern hoch. Ihr Kiefer verkrampft sich. Ein Geräusch bohrt sich in ihren Nacken, im Rücken fühlt sie eine Anwesenheit. Und da ist er selbst! Ihr unsichtbarer Begleiter. Aus den Augenwinkeln sieht sie ihn nun, einen großen Hund, schwarz und struppig. Er steht schräg hinter ihr. Er wartet, zögert, dann nähert er sich. Eine Pfote setzt er vor die andere und bleibt wieder stehen. Er rückt näher. Bis er neben ihr steht, auf Augenhöhe. Er wartet, sie rührt sich nicht, schaut ihm nicht in die Augen. Da lässt er sich nieder. Bei ihr auf dem Steinthron. Ganz nah. Er hechelt. Er lehnt sein schweres warmes Gewicht an ihren Arm und schaut geradeaus. Das tut sie auch. So sitzen sie und schauen der Sonne entgegen. Der Rhythmus seines Hechelns versetzt ihren Körper in Schwingung.
Die Sonne hebt sich über den Horizont. Ein leichter Wind weht vom Tal herauf, begleitet ihr Erscheinen. Die Geometrie ihrer Kreisform ist bald schon aufgelöst durch blendendes Strahlen. Schon ist das Leuchten zu grell, um ihr ins Auge zu sehen. Da endlich wendet sie ihr Gesicht dem schwarzen Gesellen zu. Ein paar Handbreit nur ist sein Kopf von dem ihren entfernt. Sonnengoldspitzen sprenkeln sein Fell. »Na, du Kreatur?«, sagt sie schüchtern-freundlich. Er wendet ihr seinen Kopf zu und fährt mit seiner Zunge über ihr Gesicht. »Du auch«, sagt er, ebenso freundlich, aber ganz ohne Scheu. Mit hängender Zunge grinst er sie an.
Eine Weile bleiben sie noch sitzen, aneinander gelehnt. Ein Stück geht er noch mit ihr bergab, trottet mal vor, mal hinter ihr her. Als die Piste in Sichtweite ist, bleibt er stehen, schaut ihr noch nach. Dann dreht er ab. Der Morgen leuchtet und die Welt jubiliert.

Silvia Berger
Silvia Berger, geb. Nagacevschi
1958 in Tübingen geboren, studierte Malerei in München, im Zweitstudium ev. Theologie, hat Kirchenwände bemalt und Farbglasfenster gemacht, erzählende Texte und Fachtexte über Kunst und Religion veröffentlicht, unterrichtet Kunst und Religion, ist heute auch tätig in der Leitung der Evangelischen Friedrich Oberlin Fachoberschule. Und liebt die Berge!