Ich wohne in einem Haus, das man getrost als „Bastlertipp“ bezeichnen kann. Dabei ist es gar noch nicht alt, ich hab es erst vor zwei Jahren gebaut, mit meinen eigenen Händen. Vom Dach fehlt schon die Hälfte der Schindeln, die Fassade bröckelt und die Stiegen, die Stiegen sind ausgetreten wie nur! Noch dazu kann man nicht gescheit heizen, denn dann droht sowieso alles einzustürzen. Es stimmt, dass mich die Architektin davor gewarnt hat, dieses Haus zu bauen. Ein Lebkuchenhaus hat eben sehr, sehr viele Nachteile und zwei Vorteile: Es ist wunderschön und riecht gut. Nachteile: Jeder, der vorbeikommt, bricht sich ein Stück ab und kostet. Daher kommt eigentlich der Begriff Bruchbude. Und nimmt sich dann meistens noch ein Stück mit als Proviant oder für die Omama. Die mit der Omama schauen, dass sie einen Lebkuchen mit Zuckergusszierleiste erwischen, weil das so wie früher ausschaut. Die Lebkuchen mit Zuckerguss sind bei mir als Fensterumrahmung verbaut. Als wäre es durch die angebissene Fensterverzierung noch nicht zugig genug, hat sich eine Storchenfamilie auf meinem Dach ein Nest gebaut – inmitten der Spekulatiusschindeln – und jetzt regnet es auch noch herein. Dabei hatte ich mir alles so schön vorgestellt. Ich bin nämlich von Beruf Lebkuchenherztexterin. Und da war mir die Idee so schön zugleich in einem Knusperhäuschen zu wohnen und zu arbeiten. Hinter dem Häuschen habe ich eine Verliebtheitsbackstube gebaut, Gott sei Dank aus Ziegeln, und dort bäckt ein knuspriger Eins-A-Konditor namens Ginger die köstlichsten Lebkuchen und schreibt darauf meine schönsten Worte. Worte, die Lebkuchenherzen höher schlagen lassen. „Willst Du’s?“ steht da auf einem für alle Verschämten, die ihr Herz verschenken möchten und sich nicht zu fragen trauen. Die Sportlichen wählen gerne „50/min. Nur für Dich“. „Schenk ich Dir“, „Herzrhythmusstörung“ und „Ich pumpe für die Liebe“, das wäre was für scheue Romantiker. „Nimm mich“, „Verschling mich“ und „Beiß zu“ ist etwas für die Wagemutigeren unter den Lebkuchenherzverschenkern. Ich gehe selbstverständlich auch auf den Biorhythmus von Verliebten ein: „Mein Häferlkaffee“, „Siesta-Schönheit“ und „Schwarzklare Nacht“ ist was, was ich selber gerne verschenken würde. Feinschmecker haben es bei mir besonders gut und können unter einer großen Zahl an wohlschmeckenden Wörtern wählen – „Beuscherl“, „Bohnen-Sterz“ und „Creme brulée“ lassen zuweilen auch versteinerte Herzen weich werden. Meinem eigenen Süßesten würde ich „Mein Sonnenschein“ selber auf ein Lebkuchenherz schreiben. Selber deshalb, weil meine Buchstaben ein bisschen wackelig wären, weil ich selber ja keine Übung habe im Lebkuchenherzbeschreiben, und weil das Zweitschönste das Nichtperfekte ist. Und natürlich, weil das Erstschönste im Leben der Sonnenschein ist. Meine Lebkuchen muss man zuerst: Verschenken. Dann: Den Beschenkten um den Hals hängen. Ein Photo machen. Wenn das Herz angenommen wird: Aufessen. Gemeinsam. Und dann warten, bis das Herz sich angesetzt hat auf den Hüften. Das Wichtigste: Die paar Gramm Lebkuchenherzfettpölsterchen nie mehr abnehmen. Denn mit jedem Gramm geht auch ein Gramm Liebe verloren. Das steht auch auf unserer Gebrauchsanweisung. Manche lesen sie nicht, werfen sie einfach weg oder heizen damit ihren Schwedenofen an. Manche hängen sich den Lebkuchen irgendwohin, anstatt ihn zu essen. Und dann hängt er jahrelang beim Spiegel im Vorzimmer und alle wundern sich, dass die Liebe vergeht. „Ja früher“, sagen sie, und schauen den Lebkuchen mit einem wehmütigen Blick an, „ja früher, da hat sie mir halt noch Lebkuchenherzen geschenkt. Und jetzt!“ Und dann seufzen sie noch groß. Doch unbelehrbare Käuferinnen und Käufer und ein Lebkuchenhaus, das langsam zusammenfällt, sind nicht meine einzigen Schwierigkeiten. Da sieht man wieder einmal, dass nicht jede gute Idee so gut ist, wie sie schmeckt. Eins-A-Konditor Ginger hat essbare Visitenkarten für mich entworfen, gefertigt aus einem Teig mit extra Lavendelhonig aus der Provence und Kardamom aus Madagaskar und dann hat er „Lebkuchenherztexterin Michaela“ darauf geschrieben und unsere Adresse. Seit wir die vor dem Knusperhäuschen aufgelegt haben, haben wir auch weniger Verluste an der Bausubstanz zu verzeichnen, fürs Geschäft sind sie aber nicht so gut gewesen, die essbaren Visitenkarten. Wir haben immer weniger Herzen verkauft und ich hab schon nicht mehr gewusst, wie ich den Ingwer und die Nelken bezahlen soll, und da hab ich eines Tages von meinem mit Mandeln und Kirschen verzierten Schreibtisch aufgeschaut und zu Ginger gesagt: „Tschindscher! Wir engagieren einen Privatdetektiv! Der soll herausfinden, was da los ist.“ Wir sind ins Internet und haben uns den mit dem schönsten Namen ausgesucht: Beherzt haben wir gleich bei Pankratius Pfeffer angerufen und ihn gebeten, bei uns vorbeizuschauen, zum Lokalaugenschein. Pankratius Pfeffer hat sehr, aber wirklich sehr abstehende Ohren gehabt und gerochen nach Honig aus Mariazell oder nach Marzipan aus Toledo. Ich kann mich da bis heute nicht entscheiden. Er hat ein Lächeln wie der Lebkuchenmann gehabt, den ich mit sieben von meiner Mama zu Weihnachten bekommen habe. Schiefes Lächeln, starkes Schielen. Pankratius Pfeffer hat sich auf die schon ein bisschen weich gewordene Ofenbank gesetzt, dabei versucht unauffällig ein paar Mandelsplitter herauszukratzen und in den Mund zu stecken. Ich hab es aber gesehen. Geredet hat er nicht viel, nur sehr oft und stark genickt, aber er hat sich viele Notizen gemacht, in ein altes Schulheft hinein, in verblasstem Blau. Mit Linien. Dann ist er etwas umständlich aufgestanden, hat versucht dreinzuschauen wie Miss Marple und sich in die Aufklärung des Falles hinein verabschiedet. Als ich am nächsten Tag beim zugigen Fenster hinausgeschaut habe, hat sich Pankratius Pfeffer – als Straßenkehrer verkleidet – schon vor meiner Bruchbude herumgedrückt. Wenn es nicht wegen der Ohren gewesen wäre, hätte ich ihn gar nicht erkannt, so hat der geleuchtet vor lauter Signalfarbe und Reflektorstreifen. Detektiv Pfeffer hat sich dann auch sofort dem ersten, der sich eine Visitenkarte genommen hat, hinter ihm her nachkehrend, auf die Fersen geheftet. Der Visitenkartenmitnehmer war einer, der dreingeschaut hat wie ein Finanzbeamter: gemieden und etwas grüngesichtig. Wie man halt ausschaut, wenn man keine Freunde hat. Sie sind um die Ecke, und dann hab ich eine Woche lang nix mehr gehört und gesehen. Kein Pankratius, kein Niemand. Und gekauft hat auch keiner was. Vor lauter, dass der Ginger und ich unsere Lebkuchen selber gegessen haben, sind wir schon überzuckert und überdreht gewesen. „Tschindscher!“ hab ich gesagt. „Tschindscher, weißt du was? Wir essen einfach das ganze Haus auf!“ und als wir gerade in die Dachrinne gebissen haben, ist schielend und ohrabstehend der Pankratius dahergekommen. Aber ganz anders hat der jetzt ausgesehen – seine blonden Locken sind ungehorsamst von seinem Kopf abgestanden und der Blick, den der gehabt hat! Das war so ein wilder, verruchter Miss-Marple-als-ein-Junger-Blick. Er hat sich auf die Ofenbank gesetzt, sich ungeniert ein paar Mandeln herausgekletzelt und geredet. „Lebkuchenherztexterin Michaela!“ hat er gesagt. „Ich sag dir was“, hat er gesagt. „Das mit euren Visitenkarten aus Lebkuchen müsst ihr bleiben lassen. Das war nämlich so mit dem Finanzbeamten Franz. Der Finanzbeamte Franz hat auf seinem Weg ins Finanzamt die Visitenkarte gegessen. Weil sie so gut gerochen hat. Und dann ist ihm seine Männerhandtasche hinuntergefallen, vor der Trafik, wo die rauchende Trafikantin in der Tür gestanden ist. Gleichzeitig haben sie sich gebückt um die Tasche. Und dann. Dann hat sie den Finanzbeamten Franz an der Krawatte genommen, in die Trafik gezogen und zugesperrt. Das war vor einer Woche. Ich sag dir was: Wer eure Lebkuchen isst, wird unwiderstehlich und auf der Stelle vernascht. Ich weiß das, weil ich natürlich nicht ohne Beweise zurückkommen konnte, und da hab ich den Rest der Visitenkarte gegessen. Das war, als der Schuhverkäufer Simon seinen Kopf aus der Tür gesteckt hat. Deshalb hat es ein bisschen gedauert, bis ich zurückgekommen bin.“ Und dann ist Pankratius Pfeffer rot geworden. Unsere Visitenkarten richteten sich also gegen uns selbst. Sie schmeckten einfach zu gut, um nicht sofort verschlungen zu werden. Und dann lösten sie noch so eine unwiderstehliche Anziehungskraft aus, dass die potentiellen Herzkäufer wegen großer Leidenschaftlichkeiten sowieso für einige Zeit aus dem Verkehr gezogen waren. Wir mussten die Liebesbotschafter also vernichten. Ginger und ich gehen vors Haus zu den Visitenkarten. Wir lassen einander nicht aus den Augen. Wir nehmen eine nach der anderen und essen sie auf. Zuckerguss. Mandelsplitter. Teig mit kandierten Früchten. Und dann sagt Ginger zu mir: „Lebkuchenherztexterin Michaela, weißt Du eigentlich, dass Ginger auf deutsch Ingwer heißt?“ Und dann hab ich am eigenen Leib erfahren, warum die Schärfe des Ingwers das Geheimnis jedes guten Lebkuchenherzens ist.
Das Knusperhäuschen hat uns übrigens Pankratius Pfeffer abgekauft – er richtet es gerade gemeinsam mit dem Schuhverkäufer Simon her. Wenn Tschindscher und ich zu Besuch kommen, dann dürfen wir hinten in der alten Verliebtheitsbackstube aus Ziegelstein schlafen. Das Lebkuchenherz, das Tschindscher mir geschenkt hat, trage ich immer bei mir. Denn es sitzt auf meinen Hüften. Wenn das nicht schön ist.