Liebe Mutter, schreibt er in groben, kantigen Buchstaben. Liebe Mutter, mir geht es gut.

Er hält inne, schließt die Augen, der Stift verharrt über dem Papier. Was soll er schreiben, was der Mutter erzählen? Durch das kleine Dachlukenfenster zwängt sich ein dünner Sonnenstrahl, tanzt helle Kringel auf den zerfurchten alten Tisch. Er hebt den Kopf und sieht ihm nach: dem Licht, der Wärme, dem Sommer, den er verloren hat. Einfangen will er ihn, den Sonnenstrahl, einfangen und festhalten, ganz fest; wie einen Schild gegen die Angst, gegen die Kälte und gegen die Einsamkeit.

Liebe Mutter, mir geht es gut.

Der Stift kratzt über das Papier. Wie geht es dir und der Familie? fragt er und es ist nicht nur ein Gebot der  Höflichkeit: er sieht die sehnigen Hände der Mutter den Brotteig kneten, sieht die hungrigen Augen der Geschwister und hört die heisere Stimme der Großmutter den Kindern leise die Legende vom unzufriedenen Baobab Baum erzählen, damit ihnen die Zeit bis zum Abendessen schneller vergeht; die Geschichte jenes Baumes, der der schönste von allen sein wollte und der nun, entwurzelt, die Baumwipfel im Sand, für seine Eitelkeit büßt.

Liebe Mutter, mir geht es gut.

Sie haben die Kuh verkauft und die beiden Ziegen, damit die Männer ihn mitnehmen in das reiche Land im Norden, jenseits der Wüste, jenseits des Meeres, wo alle Menschen glücklich sind; wo jeder gute Arbeit hat, ein Haus, ein Auto und die Taschen voller Geld. Nun fühlt auch er sich entwurzelt. Alleine unter tausend fremden Menschen, einsam im Lärm von  hundert fremden Idiomen. Zwei Stunden dauert der Sprachkurs jeden Morgen. Die Trainerin bemüht sich redlich, aber der Worte sind zu viele, die Sätze sind zu kompliziert, er kann sie nicht behalten. Das Mittagessen schmeckt nach ungewohnten Gewürzen. Am Nachmittag ein Spaziergang im Hof. Rauchen, trinken, den anderen aus dem Weg gehen. Um den Hof spannt sich ein hoher Zaun, von Stacheldraht gekrönt, beleuchtet in der Nacht. An jeder Ecke eine Kamera. Wer ins Dorf will, muss sich abmelden.

Liebe Mutter, mir geht es gut.

Die  Enge hier macht ihm zu schaffen. Zu acht teilen sie sich das kleine Zimmer. Vier Stockbetten stehen an der einen Wand, zwei klapprige Tische und acht Metallspinde an der anderen. Nicht, dass sie vieles zu verstauen gehabt hätten. Die meisten der Menschen hier sind mit nicht mehr als dem gekommen, was sie am Leibe trugen. Wohltätige Organisationen spenden Kleidung und Schuhe, Kissen, Decken, Lebensmittel. Für seine leiblichen Bedürfnisse ist gesorgt. Aber sein Geist verdorrt ohne Nahrung, seine Seele vertrocknet in der Einsamkeit der Fremde. Grenzenlos ist hier nur die Enge.

Liebe Mutter, mir geht es gut.

Er will kein Almosenempfänger sein. Er ist hergekommen, um zu arbeiten. Einen guten Job hat er sich erwartet und ein Einkommen, dass es ihm ermöglicht, ein Haus zu bauen, ein Auto zu kaufen  und seine Familie zu sich zu holen. Er ist ein guter Arbeiter, jung, kräftig, fleißig. Manchmal geht er ins Dorf, und manchmal deutet man ihm: komm mit! Dann hebt er für ein paar Münzen Gräben aus, schleppt Kisten und Säcke, jätet Unkraut, streicht Wände oder  hackt Holz. Immer leise, immer unauffällig; man darf ihn nicht sehen, sonst schickt man ihn wieder zurück. Doch nur so kann er ein wenig Geld verdienen, um es nach Hause zu schicken, um die Schulden bei den Schleppern abzubezahlen, um vielleicht irgendwann wieder eine neue Ziege zu kaufen.

Liebe Mutter, mir geht es gut.

Er geht den Einheimischen tunlichst aus dem Weg und ist froh, wenn auch sie auf der Straße einen Bogen um ihn machen. Erst gestern hat ihn ein Mädchen angespuckt, und vorige Woche ist er, als er abends zurück ins Quartier schlich, von ein paar jungen Burschen gejagt und verprügelt worden. Er hat sich nicht beklagt. Vielen schon ist es wie ihm ergangen. Niemand beklagt sich jemals, das Leid der Menschen ist stumm, aber er kann es doch sehen: Man bewegt sich hier geduckt, auf Zehenspitzen, still und leise, wie Schatten im Wald.

Liebe Mutter, mir geht es gut.

Durch das kleine Dachfenster zieht kühle Abendluft ins Zimmer. Die Glocke ruft schrill, laut, penetrant. Zeit zum Essen, schnell, ehe die Nachtruhe beginnt. Er schlüpft in ausgetretene Pantoffel, wirft sich eine dünne graue Weste um die Schultern. Es ist ein kaltes Land, in dem er nun gestrandet ist, ein kaltes, raues, dunkles Land. Ein Land, bewohnt von kalten, rauen Menschen.

Was soll er seiner Mutter schreiben? Das reiche Land im Norden, wo alle Menschen glücklich sind, weil jeder gute Arbeit hat, ein Haus, ein Auto und die Taschen voller Geld: Dieses Land gibt es nicht. Es ist ein Mythos, eine Legende, so wie Großmutters Geschichten vom unzufriedenen  Baobab-Baum.

Was soll er seiner Mutter schreiben? Man will ihn hier nicht haben, und er will nicht hier bleiben; er will zurück in sein Dorf, will unter dem alten Affenbrotbaum sitzen, zusammen mit den Geschwistern und der Großmutter; er will dem munteren Geplapper der Kinder lauschen und dem sanften Singsang der Alten. Aber dann wäre alles umsonst gewesen, dann hätten sie für Nichts die Kuh verkauft und die Ziegen und Schulden gemacht, die sie wohl in 20 Jahren nicht werden abbezahlen können. Also würde er bleiben und weiter für ein paar Münzen Gräben ausheben, Kisten und Säcke schleppen, Unkraut jäten, Wände streichen oder Holz hacken. Immer leise, immer unauffällig, damit man ihn nicht sieht.

Liebe Mutter –

der Stift verharrt über dem Papier.

Renate Schiansky