Es ist halb zehn, gerade noch Zeit zu parken, meinen Rucksack zu schultern und an der Kasse das Ticket zu lösen. Der Fahrdienstleiter bittet die wenigen Fahrgäste in die Seilbahnkabine. Es sind zwei ältere Herren, die sich angeregt unterhalten, und eine junge Dame in Halbschuhen und Handtäschchen, vermutlich von der Belegschaft des Vigilius Mountain Resorts, dem Nobelhotel an der Bergstation. Ein Telefon klingelt, die Dame fingert ein lila
Handy aus dem Täschchen und ein Schreck durchfährt mich: Ich habe mein Telefon im Auto vergessen! In den Bergen kann ein Handy lebenswichtig sein, wenn man alleine unterwegs ist. Ob ich nochmal kurz zum Auto laufen könnte, frage ich den Fahrdienstleiter. Ich sause davon, schnappe mir das Telefon aus dem Auto und bin wieder in der Kabine. Türe zu und wir schweben los. Mit leisem Surren geht es in die Höhe und wieder einmal bin ich fasziniert davon, wie das Etschtal zurückbleibt, der Horizont sich weitet und entfernte Bergspitzen auftauchen. Es ist Anfang März, die Wiesen und Felder sind noch braun, die Laubbäume kahl. Es gab diesen Winter so gut wie keinen Schnee, erst in den letzten Tagen oberhalb von 1800 m etwas Neuschnee. In zwei Monaten sollte ich beim Verlag das Manuskript zur Neuauflage meines Führers „Schneeschuhwandern in Südtirol“ abgeben. Dazu müsste ich die Touren abgehen und neue Fotos machen. Den ganzen Winter über wartete ich auf Schnee, aber es war wie verhext.
Die Fahrt erinnert mich an die erste Auflage des Büchleins, die vor acht Jahren erschien. Damals war Schneeschuhwandern noch etwas, das Verwunderung erntete. Ich konnte aber meinen Verlag überzeugen, dass das Thema Zukunft hat und nicht alle Winterurlauber auch Skifahrer sind. Mit dem Chef einer überregionalen Sportgeschäftekette als Co-Autor wurde das Buch dann tatsächlich ein kleiner regionaler Bestseller. Zuvor aber war ich mit der Abgabe des Manuskriptes ziemlich unter Zeitdruck und sollte in drei Monaten fast 40 Wanderungen abgehen, beschreiben und fotografisch dokumentieren. Neben dem Brotberuf bleiben da nur die Wochenenden und ein paar Ferientage! So lief ich an manchen Tagen sogar zwei Touren ab. An jene am Vigiljoch kann ich mich noch gut erinnern. Auch damals war es März, in den Tagen zuvor hatte es viel geschneit. Mein Plan war, am Vormittag zur Naturnser Alm und wieder zurück zu gehen und dann am Nachmittag nach Tiers, unter den
Rosengarten. Ich nahm daher keinen Proviant mit, sondern nur etwas Tee, essen wollte ich auf dem Weg zwischen Lana und Tiers. Es sollte ganz anders kommen! Ich war früh dran und fuhr mit einer der ersten Bahnen aufs Vigiljoch. In der Kabine traf ich auf zwei Skitourengeher: Hans, ein drahtiger Tourenprofi, und sein etwas rundlicher Freund Martin. Sie hatten wie ich das gleiche Ziel – die Naturnser Alm – eigentlich keine Skitour, aber wegen der guten Neuschneelage wollten sie von dort zur Vinschgauer Seite abfahren. An der Bergstation des Sesselliftes schnallte ich die Schneeschuhe an und die beiden zogen die Felle auf. Zu meinem Erstaunen war der Neuschnee fast hüfthoch! Obwohl nur durch das Etschtal getrennt, lag am Vigiljoch wesentlich mehr Schnee, als auf der gegenüberliegenden Talseite, wo ich tags zuvor war. Ich kam nur mühsam voran, trotz der Schneeschuhe sank
ich bei jedem Schritt tief ein und den beiden Skitourengehern ging es ebenso. Für die 5 km lange Strecke, normalerweise 1 ½ Stunden Gehzeit, benötigten wir über drei Stunden! Im Schutz eines Vordaches machten wir Rast auf der Alm, ich trank meinen Tee, Hans aß seine belegten Vinschger Brötchen und Martin schlemmte. Er erbarmte sich meiner und gab mir großzügig Wurst, Brot und Kekse ab, ich konnte die Stärkung gut gebrauchen. Während die beiden anschließend ins Tal abfuhren, machte ich mich auf den Rückweg. Erst am späten Nachmittag war ich müde und abgekämpft zu Hause und konnte daraus zwei Lehren ziehen: die Gehzeiten hängen von der Schneelage ab und immer einen Riegel und Trockenobst im Rucksack dabei haben!
Mit diesen Erinnerungen im Kopf bin ich also nach acht Jahren wieder auf dem Vigiljoch unterwegs, um nun eine Tourenvariante auszukundschaften. Dem Liftwart an der Bergstation des Sesselliftes teile ich mit, dass ich aufs Naturnser Hochjoch möchte, was ihm ein respektvolles Nicken entlockt. Diesmal ist außer mir kein Mensch unterwegs. Bis zur Abzweigung zur Naturnser Alm finde ich aber eine gute Spur, denn die Strecke ist beliebt bei
Schneeschuh- und Winterwanderern. Der Weg zum Hochjoch, einem Vorgipfel des etwas höheren und zurück versetzten Hochwart, ist gut markiert. Nach der leichten Steigung auf den Rauhen Bühel tritt die Spur aus dem Wald heraus und gibt prächtige Ausblicke übers Etschtal und zu den fernen Dolomiten frei. Die Flanke des Hochjochs kommt näher. Die Schneedecke ist dünn, teilweise vom Wind verweht und krustig. Ich höre nur mein eigenes Atmen und je höher ich komme, desto mehr geht es über Fels-Blockwerk. Kurz unter dem Gipfel bei einem kleinen Plateau mache ich Halt und spare mir das letzte, felsige Steilstück. Bei Tee und Jause genieße ich noch die Aussicht und empfinde es als wahren Luxus, hier so hoch oben stehen zu können. Dann geht es schon wieder zügig zurück. Im Wirtshaus an der Bergstation des Sesselliftes lasse ich mir noch eine heiße Gulaschsuppe und ein Bier schmecken. Als ich dann schließlich beim Lift ankomme, ist er zu meinem Schreck bereits eingestellt. Der Liftwart erkennt mich, beruhigt mich und telefoniert mit seinem Kollegen an der Talstation: „Der vom Hochjoch ist zurück.“ Gut zu wissen, dass man sozusagen auf mich gewartet hat. Der Sessellift wird wieder eingeschaltet, ich zuckle langsam abwärts, steige in die Seilbahn um und bin kurz drauf im Tal.