Das Wasser des Indischen Ozeans liegt wie eine helle blaugraue Decke vor ihr und erstreckt sich bis zum Horizont. Irgendwo da hinten, wenn man immer weiter in die eine Richtung schwimmt, kommt Indien. Kurze Wellen plätschern an den Strand. Die Sonne hat sich hinter dem Bergrücken für heute verabschiedet und die ärgste Hitze mit sich genommen.
Im blau-weiß gestreiften Badeanzug, den sie hier den ganzen Tag trägt, hockt Johanna im noch sonnenwarmen Sand und lässt graue Körner durch die Finger rinnen. Gebannt starrt sie auf den kleinen Sandhaufen, der vor ihren Augen wächst, bevor sie abermals neben sich greift, um das Spiel von Neuem beginnen zu lassen. Vor zwei Stunden war Flut und nun zieht sich das Wasser zurück. Jedes Mal gibt die Ebbe Geheimnisse des Meeres preis. Gestern hat der Vater Johanna den Schulp eines Tintenfisches gezeigt. Das weiße Stück Kalk ist die Schale des ansonsten weichen Tieres, hat der Vater erklärt. Unzählige Muscheln, die in Form und Farbe variieren, viel größer und bunter als die, die sie von zu Hause kennt, hat Johanna bereits gefunden. Aber keinen Sanddollar.
„Was ist das?“, hat sie ihre Großmutter an dem Nachmittag, als sie zum ersten Mal über die alte, immer noch Tabak ausdünstende Zigarrenkiste mit dem merkwürdigen Inhalt gestolpert ist, gefragt. Plättchen, wie Taler aussehend. „Sanddollars“, hat die alte Dame geantwortet. Von der Sonne weiß gebleichte Skelette von platten Seeigeln seien es, rund, mit einer wunderschönen Oberflächenzeichnung, die einer Blume ähnelt, und kleinen seltsamen Schlitzen. Ihre Großmutter hat sie vor langer Zeit an einem Strand gesammelt, von einer Reise mitgebracht. Es gebe viele Geschichten, jede Menge Legenden, die sich um die Sanddollars ranken, hat sie erzählt. Manch einer sagt, das seien die Münzen der Meerjungfrauen oder das Geld des versunkenen Inselreichs Atlantis. Gemerkt hat Johanna sich diese zwei Versionen der Geschichten und: Sanddollars sind Glücksbringer. So ähnlich wie Sternschnuppen. Wenn man sie findet, darf man sich etwas wünschen.
„Man muss fest daran glauben, dann geht der Wunsch in Erfüllung!“ Johanna kann das Gesicht der alten Frau, ihr gütiges Lächeln in Gedanken vor sich sehen. Wie sie ihre Großmutter vermisst.
Johanna ist hier, in diesem fremden Land, das für eine begrenzte Zeit zu ihrer Heimat werden soll. Die Arbeit hat den Vater mit der gesamten Familie hierher verschlagen. Und Großmutter ist zu Hause. Bald ist Weihnachten. Johanna hat einen Wunsch. Einen großen Wunsch. Dessen Erfüllung gibt es nicht in einem Geschäft zu kaufen, nicht einmal hier, in den exklusiven Geschäften der luxuriösen Shoppingmalls. Inzwischen denkt Johanna, nur der liebe Gott kann ihr helfen, diesen Wunsch zu erfüllen. Oder vielleicht ein Sanddollar?
„Johanna, wir gehen am Strand entlang!“ Ihre Eltern stehen mit einem Mal vor ihr. Es ist Zeit für den täglichen Strandspaziergang, den sie unternehmen, wenn die Sonne untergegangen ist. In der blauen Stunde, die hier wesentlich kürzer als sechzig Minuten ist, wenn die Farben von Himmel und Meer zu einer Melange aus bläulichen dunstigen Pastelltönen verschwimmen. Johanna lauscht und jetzt hört sie es: den Singsang der Muezzins, der um diese Zeit hier einsetzt wie anderenorts das Konzert der Zikaden. Fetzen des Klangteppichs weht der laue Abendwind an den Strand. Töne, die aus den Lautsprechern der Moscheen, die überall verstreut entlang der Küstenstraße stehen, wie das Summen in einem Bienenstock klingen.
Vater und Mutter laufen Hand in Hand, vertieft in eine angeregte Unterhaltung. Johanna ist immer ein paar Schritte voraus, immer im gleichen Abstand, wie durch ein unsichtbares Band verbunden. Sie sieht den Flussuferläufer als erste, den kleinen Vogel, der aufgeregt vor ihnen hin und her tippelt, und die Jakobsmuschel. Sobald sie das Areal des Hotelkomplexes verlassen haben, sind sie fast alleine am Strand. Erst am späten Abend gesellen sich Menschen hierher. Alleine oder in kleinen Gruppen zusammensitzend starren sie auf das Meer, an dessen Ende, unzählige Kilometer, mehrere Flugstunden entfernt, ihre Heimat liegt.
Johanna läuft direkt am Saum des Wassers, das wie von Geisterhand gezogen immer weiter zurückweicht. Jede neue Welle schwappt weniger weit als die vorherige, zeichnet eine fast unsichtbare Linie in den nassen Sand. Zusammen ergeben diese vielen Linien ein schönes Muster, findet Johanna, deren Augen beständig nach unten gerichtet sind. Sie trägt den durchsichtigen Eimer bei sich, der sie auf all ihre Exkursionen begleitet. Die schwarze Feder eines Vogels legt sie hinein und einen toten Schmetterling, der bläulich schimmert. Dort liegt ein Schulp, mal wieder. Warum findet sie keinen Sanddollar?
Jeden Morgen geht sie hoffnungsfroh an den Strand. Neulich hat eine Urlauberin ihr einen Sanddollar gezeigt, den Johanna mit Herzklopfen betrachtet hat. Nachdem Johanna der Frau atemlos von den Geschichten erzählt hat, die sich um das Skelett des Seeigels ranken, hat die Frau gelacht. Dümmlich gelacht. Und einen Wunsch hatte sie auch nicht parat.
Johanna wüsste sofort, was sie sich wünscht. Sie könnte ihren Wunsch auf der Stelle aussprechen, selbst wenn ihr unverhofft doch eine Sternschnuppe begegnen sollte. Hier kann man normalerweise keine Sternschnuppen sehen, sogar die Sterne sind nur selten zu erkennen. Zu viel Staub aus der Wüste oder Feuchtigkeit vom Meer liegen in der Luft.
Da vorne leuchtet etwas hell im letzten Licht des Tages. Zunächst denkt Johanna an eine kleine Qualle, aber als sie näherkommt, schlägt ihr Herz schneller. Dieses weiße Ding dort — hoffentlich kein Plastik, huscht ihr durch den Kopf. Gleichzeitig sieht sie, dass ihnen eine Familie mit einem kleinen Jungen entgegenkommt. Sie muss zuerst dort sein, denkt sie und rennt los.
Sie kann es kaum glauben. Ein Sanddollar. Johanna hat ihn gefunden. Ehrfürchtig starrt sie ihn an. Mein Wunsch, denkt sie, ehe der kleine Junge sich neugierig nähert. Bevor sie einschreiten kann, greift er nach dem Skelett.
Es zerbricht. Der Sanddollar zerlegt sich vor ihren Augen in zahllose Teile. Und ihr Wunsch? Johanna spürt, wie die Tränen hinter ihren Lidern brennen.
Jetzt ist Johannas Vater neben ihr. Sie hört seine Stimme. „Ein Sanddollar! Wie schön. Und man kann die fünf Friedenstauben sehen. Es sind Glücksbringer. Johanna, wir dürfen uns etwas wünschen!“
„Bist du sicher?“
Der Vater nickt. Johannas Augen richten sich nun auf die fünf weißen Stücke, die zwischen den anderen Teilen hervorstechen. Sie weiß nicht, ob sie sich fünf Mal etwas wünschen darf, aber das ist egal. Johanna hat nur einen Wunsch. Ganz fest denkt sie daran. Voller Inbrunst hofft sie, dass er sich erfüllt.

Bettina Schneider