Annalena hatte ich am Flugplatz San Nicola, auf der grünen Wiese von Venedig kennen gelernt. Sie war eine charmante Dame, die der Fliegerei zugetan war. Nach längerem Gespräch bei einem Campari mit Ausblick auf den Mastenwald in der Lagune sagte ich zu ihr, wenn sie einmal in Bozen landen sollte, würde ich ihr einen Teil meiner Heimat vom Boden aus zeigen, mit besserer Fernsicht.

Eines Tages kam sie angeflogen. Ich war im Zweifel, ob ich sie aufs Rittner Horn, auf den Penegal oder aufs Vigiljoch bringen sollte. Alle drei Standorte gewähren eine herrliche Fernsicht über das Land im Gebirge. Wie in einem Sandkasten sieht man von oben bis unten die Krippenarchitektur der sagenhaften Bergwelt. Annalena kannte das Meraner Becken nicht und so entschied ich mich fürs Vigiljoch. Bergfahrt mit der Seilbahn, Blick auf den Meraner Pferderennplatz und schon waren wir an der Bergstation angelangt.

Die Speckmarende beim vigilius mountain resort war das Richtige. Dazu einen Vernatsch-Wein, der das Jahr zuvor den „vigilius award“ gewonnen hatte. Wir betrachteten das Panorama, vom violett und fliederfarben schimmernden Porphyr des Tschögglberges dominiert. Eine Wolke zog vom Sarntal in Richtung Ifinger. „Wie ein Paramount-Film!“ sagte Annalena.

„Apropos Film“, erwiderte ich, “ vis à vis von uns, auf der orographisch linken Seite der Etsch, gibt es ein Kino ganz besonderer Art, das „Knottenkino“, ein Felsenkino. Gemacht wurde es von einem begabten Kunstschmied, der sich schon durch die Stahlkugel von Hochfrangart des Karl Nicolussi ausgezeichnet hatte. Das ist jene Kugel mit 8 m Durchmesser, die wir bei der Anfahrt gesehen haben und die dir beim Landeanflug auf Bozen aufgefallen ist, wie ein Funkfeuer.“ Annalena hob die Augenbrauen, die ihrem Blick eine besondere Ausstrahlung verliehen, und bejahte nickend. Daraufhin erklärte ich ihr, dass ebenderselbe Franzl Messner auf einem ausgesetzten Porphyrfelsen eine Reihe von etwa 40 Kinoklappsesseln am anstehenden Gestein befestigt hatte, um den Besuchern bewusst zu machen, wie kurzweilig und abwechslungsreich die Fernsicht von der richtigen Warte aus, auf der richtigen Höhe sein kann. Da kam gleich ein fast akademisches Gespräch über Fernsicht und Kurzsicht, über Nahsicht und Weitblick, über Höhe und Tiefe, über Berg und Tal ins Rollen; über Distanz halten und Überblick bewahren und über die Fernsicht vom Berg aus, aus dem Flugzeug, aus der Sicht der Raumfahrt. Wie viele Horizonte sich uns anboten: Gras, Zaun, Strauch, Baum, unzählige Schattierungen von Grün, Geländestufen in der Landschaft, Kämme und Grate, Berggipfel, Wolkenlandschaft, blauer Himmel, Nachthimmel mit Sternen. Landschaft ist Akt und Akt ist Landschaft.

Annalena war begeistert von der Idee des Knottenkinos. „Gehen wir hin!“ schlug ich vor, „ein paar Schritte zu Fuß verkraftest du!“

Schnell waren wir mit der Seilbahn wieder in Lana, mit der Vöraner Bahn in wenigen Minuten am Tschögglberg und hinauf ging es ein gutes Stündchen zum Knottenkino. Inzwischen hatte sich die Sonne kurz hinter ein paar Wolken versteckt und als wir ankamen, waren die Besucher gerade dabei, fluchtartig das Knottenkino zu verlassen. Sicherheitshalber hatte ich einen überdimensionierten Regenschirm mitgeführt. So setzten wir uns ins Knottenkino, waren ganz mitten drin, allein. Ein Windstoß schoss kurz durch die Nadelbäume. In Sekundenschnelle änderte sich das Panorama. Leichtes Rauschen in den Gipfeln. Nahe Krähen krähten das Zirpen ferner Grillen nieder. Über die Mutspitzen rollten dunkle Wolken, als hätte sie Van Gogh pastös ans Himmelszelt gespachtelt. Vom Mendelstock her zogen regenschwangere, hellgraue Anhäufungen von Wolken im kumulativen Durcheinander. Der Horizont sank immer tiefer. Bei Andrian gingen erste Hagelstreifen nieder. Aufsteigende Thermen fuhren wie Schneebesen durch die Kugelwolken, fast zuckend wie durch Buchweizenteig, beim Eiweißunterheben. Schamhaft hatte sich die Sonne hinter die letzten Federbüschel der noch verbliebenen Cirren versteckt. „Willst Du Sachen mit mir machen, dass die Sonne sich schon schämt?“

Hinter uns ein schrecklicher Peitschenknall, der erste Blitz, der Himmelsfotograf am Werk.

Annalena hängt sich ein, schmiegt sich an. Schon prasselt der Regen. Durch den nassen Familienschirm leuchten eingedruckte Sternbilder. Der Film im Knottenkino ist nun in vollem Gange. Vom Ultental heraus schlängelt wolkig sich ein Drache, ein wilder Ritter stürzt zu Ross sich ihm entgegen, herab von oben, bleibt über Burgstall stehen und löst sich auf ins Nichts, wie schon vom Blitz zerschlagen: nur Wasserdunst und regenfeuchte Luft. Ein paar Hagelsteine klappern auf die Klappsessel des Kinos, noch ein paar Blitze, Donnerrollen, und der Spuk scheint schon vorbei. Kurzer Nieselregen, Lerchen trillern himmelwärts, glücklich wie Regenpfeifer. Zwei Marienkäfer haben Annalenas Fesseln erklommen. Die nahen Wetterwolken nehmen Distanz, liegen gleich höher. Bodennebel steigen auf vom Tal. Nebel, nebul, nebula, nefnlh, mit mikroskopischen Tröpfchen beladene Luft bringt längst vergessenes Glück ans Tageslicht, alles löst sich auf. Windböen wirbeln durch das graue Dach. Wolken stemmen sich gegen Wolken wie schwere Sumokämpfer. Endlich: Vorhang wieder auf für das Blau des Himmels. Fabelwesen entstehen und verschwinden in Minutenschnelle, trickfilmartig flimmern Megapixel in Myriaden exponentiell gesteigert an des Himmels Monitor.

Sonnenstrahlen brechen sich in Tropfen an den Zittergräsern. Ein Windstoß, fernes Donnerrollen und der Film ist aus. Für den Augenblick. Auf der Breitwand des Tales werden die Schlusstitel abgespannt: „Fernsicht“.

Über den gleichen Weg kehrten wir zum Vigiljoch zurück. Wir setzten uns auf die Terrasse, die Sonne war schon fast im Bettchen für die Nacht, wir erzählten vom Knottenkino und von der Schule des Sehens, die ihm innewohnt.

Bei einer weiteren Flasche Vernatsch wollte man von uns wissen, was im Knottenkino gerade gespielt worden war. „Das können wir nicht erzählen“, sagte Annalena, „unser Film war eine Ur- und Erstaufführung, für uns allein!“ Darauf entgegnete ich: „Heute braucht ihr nicht ins Knottenkino gehen, auch hier wird gespielt. Die Handlung des Films kann ich euch nicht genau sagen, aber die Hauptdarsteller stehen so ziemlich fest: der Abendstern Venus ist schon aufgetreten, der Mond beim Untergehen, der Große Wagen wartet auf seine Passagiere, der Kleine kommt gleich aus dem Norden; dann grüßt Mizar, der Mantel, und Alkor, das Reiterlein, pulsiert fast unsichtbar als Bote ganz geheimer Liebe. Die Jungfrau steht im vierten Haus, die Wega, Minus Stern,  zupft an Leier, verzaubert die Plejaden, der Krieger jagt Andromeda. Am Pferdekopf hängt noch der Nebel des Gewitters von heut Nachmittag!“

Das Welttheater vor dem Universum ist die Fernsicht in das All.

Der Rest scheint allzu oft nur Fernsicht … aus der Maulwurfsperspektive.