Sie drückt die grau lackierte, verkratzte Stahltür auf und betritt die fahl beleuchtete Tiefgarage. Jeden Morgen fällt die Tür hinter ihr mit dem immer gleichen Knallen ins Schloss, jeden Morgen antwortet sie mit einem Daumendruck auf den silbernen Knopf des Autoschlüssels. Der Zündschlüssel klappt mit einem satten, kräftigen Klacken aus dem schwarzen Gehäuse. Springmesser, denkt sie mit einem Gefühl von Ermächtigung und Selbstwirksamkeit. Der Daumen rutscht auf die Entsperrtaste, sie drückt und ihr Auto antwortet. Die Blinker leuchten zweimal auf. Mein Auto zwinkert mir zu, denkt sie und antwortet mit einem stillen »Guten Morgen!« Dann legt sie ihre Arbeitstasche in den Kofferraum und lässt sich auf dem Fahrersitz nieder.
Sie dreht den Schlüssel in der Zündung, die Symbole im Display leuchten auf, verschwinden wieder, nur das Motorblock-Symbol leuchtet weiter, es erlischt nie, bevor sie den Motor startet. Warum? Stimmt etwas nicht? Sie wünschte, es gäbe jemanden, den sie fragen könnte. Etliche Sekunden wartet sie noch – vorglühen, obwohl sie weiß, dass die Vorglühzeit bei den modernen Dieselautos minimal ist. Aber sie stellt sich vor, wie der Pol der Glühkerze glimmt, und dieser Gedanke wärmt auch sie. Nach dem Starten des Motors hält sie stets einen Augenblick inne, lauscht dem satten Brummen und genießt das zarte Vibrieren. Sie liebt den Diesel, »das Dieselchen«, wie sie das Auto insgeheim nennt.
Als ihr Vater mit dem neuen Auto die erste längere Fahrt unternahm, sendete er ihr von unterwegs eine freudige SMS: »Das Auto fährt ganz prima, völlig ruhig und schnurrt wie eine Biene.« Ja, genau so, denkt sie. »Summt wie eine Biene« wäre einfach nicht richtig, summen wäre zu hoch, fast schon alarmierend. Aber das Unermüdliche, Fleißige einer Biene, das stimmt. Genauso wie das Warme, Weiche, Vertrauen schenkende des Schnurrens.
Mit einem tiefen Atemzug löst sie sich aus ihren Gedanken und legt den Rückwärtsgang ein. Als sie die Tiefgarage verlässt, zeigt die Uhr wie jeden Morgen 6:20 an, aber heute umfängt sie die Dunkelheit besonders lastend. Es nieselt und der Regen bildet Schlieren auf dem Asphalt. Und kein Mond steht am Himmel, an dem sie sich festhalten könnte. Ihr Herz zieht sich zusammen. Seit ihr Vater gestorben ist, passiert das manchmal, ohne Vorwarnung. Seitdem muss sie immer wieder mit Einsamkeit und dem Gefühl, nirgends mehr dazuzugehören, kämpfen.
Fahren, besinnt sie sich, einfach fahren! Und – vielleicht klappt es ja heute wieder. Es. Bei dem Gedanken macht ihr verkrampftes Herz einen kaum merklichen Hüpfer. Aber die Wichtigkeit, die »Es« dadurch einnimmt, macht ihr Angst und sie versucht sich einzureden, dass es ihr ziemlich egal ist, ob »Es« passiert oder nicht. Obgleich sie weiß, dass das nicht stimmt, aber sie mag sich keine Hoffnung machen und dann enttäuscht werden. Es ist ihr stilles Geheimnis. Ein Schatz aus ihrer Notfalltruhe, ein Geschenk. Etwas, das wortlos geschieht, auch deshalb würde sie nicht auf den Gedanken kommen, darüber zu sprechen. Sie hat Angst, dass es sich auflösen könnte, sobald sie es in Worte fassen würde, dass es als banal abgetan werden und verpuffen könnte.
Sie biegt aus dem Wohngebiet auf die Hauptstraße. Noch liegt sie ruhig, vereinzelt hasten dunkel gekleidete Menschen zur Trambahn. Kurz darauf fädelt sie auf den Mittleren Ring ein, wo der Berufsverkehr schon in vollem Gange ist. Die Pendler, die in die Stadt strömen, rollen in einem nicht abreißenden Fluss dahin. Der Verkehr ist zwar schon dicht, aber er läuft noch einwandfrei. Es ist die Zeit, bevor das Stop-and-Go beginnt.
Für sie ist das enorm wichtig, damit »Es« passieren kann. »Es« funktioniert am besten, wenn sie sich in einer dichten, endlosen Kolonne befindet, die mit circa 60 km/h auf dem Ring fährt. So, wie jetzt. Im Rückspiegel reihen sich Scheinwerfer an Scheinwerfer, soweit das Auge reicht. Noch ist die Straße zweispurig, aber in einem halben Kilometer verengt sich die Fahrbahn auf eine Spur. Sie nutzt eine etwas größere Lücke, um frühzeitig auf die linke Spur zu wechseln. Denn gerade im morgendlichen Berufsverkehr gibt es zahlreiche Autofahrer, die den Abstand zum Vordermann gnadenlos geringhalten und so das Einfädeln verhindern. Wie immer ist sie erleichtert, als das einspurige Teilstück erreicht ist. Sie passiert die sich gegen die Dämmerung abhebenden Türme des Heizkraftwerks und kurz darauf den Container-Umschlagplatz.
Hinter sich spürt sie einen Drängler. Ungewollt zieht sie ihre Schultern hoch und spannt den Nacken an. Sie versucht, das bedrohlich eng auffahrende Fahrzeug auszublenden. Ihre Augen beginnen zu suchen, während sie bemüht ist, sich einzureden, dass es egal ist, ob »Es« passiert oder nicht. »Es ist egal, es ist egal, es ist egal.« Dennoch hält sie unwillkürlich den Atem an – und dann sieht sie ihn.
Ja, das könnte passen. Sie kalkuliert den Abstand, geht zum richtigen Zeitpunkt vom Gas und tritt schließlich sanft auf das Bremspedal. Sie spart sich den Blick in den Rückspiegel, wo sich vermutlich ein Schatten über dem Lenkrad mit eindeutigen Gesten über ihr Abbremsen aufregt. Jetzt übernimmt sie die Regie! Den Blick hat sie fest nach vorne gerichtet, ihre Aufmerksamkeit ist bei dem LKW. Er steht in der Einmündung zum Ring und wartet auf eine Lücke im Verkehr. Hinter ihm bildet sich ein stetig wachsender Stau ungeduldiger Autofahrer. Ein PKW-Fahrer hat vielleicht eine Chance, sich mit Mut und starker Beschleunigung in eine der kleinen Lücken zwischen zwei Autos zu drängen, aber ein Koloss von LKW ist chancenlos. Der Abstand zum vor ihr fahrenden Auto vergrößert sich deutlich. Der LKW-Fahrer versteht das Zeichen. Langsam setzt sich das schwere Fahrzeug in Bewegung. Das Geschehen hinter ihr klammert sie weiterhin aus, vor ihr fährt der LKW auf den Ring. Sie schließt auf und schaut gewohnheitsmäßig auf das Kennzeichen – LT, Litauen ist es diesmal.
Und dann kommt »Es«, das universelle Dankeszeichen der Trucker. Am Heck des LKWs fangen die gelben Lichter an zu blinken: rechts, links, rechts, links. Jedes Mal wieder öffnet dieser kurze Moment wortloser Verbundenheit ihr Herz. Und sie weiß, dass die vier Lichtzeichen sie auch durch diesen dunklen Tag tragen werden.

Anja Härtling
Anja Härtling
Jahrgang 1967, geboren und aufgewachsen in München. Sie begann 2017 zu schreiben und schreibt seitdem wenig, aber kontinuierlich. Thematisch faszinieren sie die kleinen Begebenheiten und Begegnungen im Alltag. Gerne hält sie solche fest, die leicht unter die Wahrnehmungsschwelle oder in die Selbstverständlichkeit rutschen.